Am Niederrhein. Was passiert, wenn der Mensch nicht in den Wald eingreift? Das zeigt sich in den Naturwaldzellen, von denen es auch am Niederrhein einige gibt.
Die beiden Gegner kämpfen in luftiger Höhe. Der eine beugt sich herüber, will endlich den Sieg davon tragen, doch der andere bleibt standhaft, lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Das ungewöhnliche Schauspiel ist im Hochwald von Uedem zu beobachten, zwischen zwei Bäumen. „Die Buche ist ziemlich gnadenlos“, erklärt Klaus Striepen vom Landesbetrieb Wald und Holz NRW. „Sie lässt anderen wenig Raum.“ Ein echtes Problem für die Eiche, die viel Licht benötigt. Und nun? „Normalerweise würde der Förster jetzt eingreifen und die Buche entnehmen.“ Nicht aber in diesem Fall, denn hier sind sich Flora und Fauna selbst überlassen, Buche und Eiche müssen den Kampf unter sich ausmachen.
Ja, es gibt tatsächlich einen Urwald am Niederrhein! Wobei, das betont Striepen, per Definition ein „Urwald“ noch nie bewirtschaftet wurde. „Und jeder Wald in Deutschland hat eine Nutzungsgeschichte“, hält er fest. Treffender sei daher „Naturwald“, denn in dem Gebiet war zwar einst der Mensch aktiv, seit vielen Jahren aber ist Ruhe eingekehrt. Und das buchstäblich. Beim Spaziergang zu den imposanten Protagonisten ist lediglich das Rascheln des Laubs zu hören, weit entfernt brummt höchstens noch die Radarstation der Luftraumüberwachung. Ansonsten aber ist nix los und das ist auch gut so. Denn so sieht es das Konzept der Naturwaldzellen vor, das gerade sein 50-jähriges Bestehen gefeiert hat.
Vorbilder für heimische Wälder
Damals, Anfang der 1970er, war die naturnahe Waldbewirtschaftung kein Thema. Im Gegenteil. Der Anteil der Fichten war überall so hoch wie nie, immerhin galten Nadelbäume aufgrund ihres schnellen Wachstums als besonders produktiv. „Aber man machte sich langsam Sorgen, dass irgendwann komplett die Vorbilder für heimische Wälder fehlen würden“, sagt Striepen. Buchen und Eichen beispielsweise verschwanden immer mehr von der Bildfläche. Ein bundesweites Projekt sollte der Entwicklung entgegenwirken, sollte zudem neue Erkenntnisse für die allgemeine Waldbewirtschaftung bringen. 1971 entstanden die ersten Naturwaldzellen in NRW, mittlerweile gibt’s davon 75.
„Man hat alte Wälder gesucht, die typische Bestände aufweisen“, erklärt Striepen. Zwei davon befinden sich mitten im Hochwald, wie ein dreieckiges Schild allen Vorbeikommenden erklärt: „Naturwaldzelle. Das Betreten ist nur auf den Wegen gestattet.“ Noch besser wäre es, hier überhaupt nicht herumzulaufen. Ausnahmsweise geht’s nun aber kurz rein, um ein Bild zu bekommen von dem Forschungsprojekt, das sich über die Jahrzehnte zur Erfolgsgeschichte gewandelt hat. Ja, es braucht einen langen Atem für die Arbeit, schnell ändert sich bei Bäumen nix. „Aber NRW hat es geschafft, das Projekt fortzusetzen.“ Und deshalb können sich die Forschenden nun über einen „Schatz“ der Erkenntnisse freuen.
Buchen und Eichen am Niederrhein
Die Mischung aus Buchen und Eichen ist typisch für den Niederrhein, weiß der Experte. Deshalb gelten insgesamt 42 Hektar des Hochwaldes nun als „Naturwaldzellen“, in denen jeder Baum eine eigene Nummer trägt. Das macht es einfacher, die alle zehn Jahre stattfindenden Untersuchungen durchzuführen, bei der jeder einzelne Baum genaustens unter die Lupe genommen wird. „Dort oben beispielsweise“, Striepen zeigt auf einen abgebrochenen Ast, „der wird anfangen zu faulen, sodass eine Höhle entsteht, in der sich Käfer oder Fledermäuse wohl fühlen.“ Solche Lebensräume gilt es auch in einem Wirtschaftswald zu erhalten, doch genau dafür braucht es zunächst noch ein paar Antworten aus dem Naturwald.
Wie lang dauert es, bis aus einem abgebrochenen Ast eine kleine Höhle entsteht? Wie viele abgestorbene Bäume müssen stehen bleiben, damit sich ein gesundes Ökosystem entwickeln kann? Und wie läuft eigentlich die natürliche Verjüngung statt? Striepen beugt sich nach unten und nimmt einen Keimling hoch. „Das ist eine kleine Eiche“, erklärt er, „die hat hier aber keine Chance, weil es viel zu dunkel für sie ist.“ Tatsächlich, das Kronendach ist dicht, Licht kommt kaum durch. Der immergrünen Stechpalme macht das dagegen nichts aus und wächst wenige Meter weiter munter vor sich hin. „Die Ilex mag milderes Klima und profitiert deshalb von der Klimaveränderung.“
Klimawandel im Wald
Auch das ist eine Erkenntnis: An den Naturwaldzellen lassen sich gut die Auswirkungen des Klimawandels auf die Wälder ablesen. Quasi als „Klimawandel live“, wie Striepen festhält. Aber können Naturwälder auch besser als Wirtschaftswälder CO2 speichern? Bevor er darauf antwortet, muss er kurz etwas klarstellen: „Wenn man eine Vorhersage trifft, kommt es oft doch anders, als man denkt.“ Deshalb braucht es eben viel Zeit, um konkrete Aussagen tätigen zu können. Etwas aber kann er schon jetzt dazu sagen: „Bei Eichenwäldern nimmt die CO2-Speicherung irgendwann ab, weil sich der Zerfall und die Photosynthese im Gleichgewicht halten. Bei Buchenwäldern geht dagegen mehr als man vorher dachte.“
Noch herrscht eine gewisse Lücke zwischen Forschungsarbeit und Alltagsarbeit, das muss Striepen zugeben. Deshalb bietet Wald und Holz NRW regelmäßig Fortbildungen für Försterinnen und Förster an, lädt sie zu den Begehungen vor Ort ein. „Ich nehme einen Wandel wahr“, sagt er. „Das Interesse an naturnaher Bewirtschaftung steigt und viele sehen die Naturwaldzellen auch als ihre Schmuckstücke.“ Schmuckstücke, die sie gerade nicht hegen und pflegen, sondern einfach in Ruhe lassen. Höchstens wenn die Verkehrssicherung durch einen abgestorbenen Baum gefährdet sein sollte, dann greifen sie schon mal ein. Einen Käferbefall aber würden sie nicht eindämmen, da müsste das Waldstück schon alleine durch.
So wie Buche und Eiche ihren Kampf weiter ohne Hilfe vom Förster austragen müssen. Wie der ausgeht? Das ist absehbar, verrät Striepen. Nicht sofort, natürlich. 30 bis 40 Jahre wird es sicher dauern, bis der Sieger endgültig feststeht: „Die Buche wird die Eiche überwachsen.“
>>> 50 Jahre Naturwaldzellen in NRW
Anlässlich des 50. Jubiläums der Naturwaldzellen NRW wurde das Forschungskonzept neu überarbeitet. Aktuelle Fragen, wie sich der Klimawandel auf Waldökosysteme auswirkt, sind nun ebenfalls Teil des Monitorings. Das Projekt läuft unbefristet, um verlässliche Erkenntnisse für den allgemeinen Waldnaturschutz und die nachhaltige Waldbewirtschaft gewinnen zu können.
Die Naturwaldzelle Hochwald 1 (seit 1971) ist 13,7 Hektar und die Naturwaldzelle Hochwald 2 (seit 1994) ist 27,7 Hektar groß. Das gesamte Waldgebiet ist circa 960 Hektar groß und vollständig im Besitz des Landes NRW.