Das Neun-Euro-Ticket soll (u.a.) Autofahrer zum Umsteigen bewegen. Hier für ein kleiner Reiseführer in die Welt des Schienenverkehrs.

Vorspiel: Damals auf Sylt

Alles ist schon mal dagewesen, auch günstiges Reisen in Regionalzügen. 1995, als die neu gegründete Deutsche Bahn AG anfing, unternehmerisch zu denken und leere Nahverkehrszüge am Wochenende füllen wollte. „30 Mark, fünf Leute, zwei Tage“ hieß die Formel, ein Anderthalb-Euro-Ticket.,.. „Schönes Wochenende“ hieß das. War es aber nicht für Sylter, die vom Hamburger Plebs überfallen wurden und bis heute traumatisiert sind.

Aber jetzt geht es los! Ganz Deutschland für 9 Euro pro Monat! Was aber sollten Menschen beachten, die den Käfig ihres Autos erstmals verlassen, um die Wildnis des Nahverkehr zu erforschen?

Lektion 1: Ticket kaufen.

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Geht tatsächlich schon heute, bei der Ruhrbahn prangt ein fetter „9-Euro-Ticket“-Button auf dem Startbildschirm. Drücken, EC- oder Kreditkarte in den Schlitz stecken, fertig. Namen draufschreiben (auch ein Ticket für jedes Kind ab sechs kaufen, da gibt es keinen Rabatt) und warten bis zum 1. Juni. Für alle smarten App-User: Ab Montag, 23.05. soll es das Ticket im Bahn-Navigator, bei NRW-Mobil und all den anderen üblichen Nahverkehrs-Apps geben. Habt ihr nicht? Na dann:

Lektion 2: Apps installieren!

Smart ist es, ein Smartphone zu haben. Und sich den Bahn-Navigator herunterzuladen (www..bahn.de). Bei der Reiseauskunft unter „Optionen“ anklicken: „Ohne ICE, IC/EC, Interregio (sind seit 2006 abgeschafft, stehen aber noch drin, liebe Bahn…) und Schnellzug“ anklicken. Die sind für Sie tabu. Genauso wie Thalys, Flix und all die anderen schicken Züge sowie die erste Klasse.

Fett und grün: die RRX-Linien aus der Region. In Orange: die IC-Linien, die man (vielleicht) nutzen darf, das ist noch nicht entschieden. Und die anderen Striche? Die wichtigsten Regionallinien im Land. Ohne Vollständigkeit.
Fett und grün: die RRX-Linien aus der Region. In Orange: die IC-Linien, die man (vielleicht) nutzen darf, das ist noch nicht entschieden. Und die anderen Striche? Die wichtigsten Regionallinien im Land. Ohne Vollständigkeit. © Büttner/Hermsen | grafik

Lektion 3: Sich warm fahren!

Fangen Sie langsam an. Nahverkehrsprofis werden nicht an einem Tag geboren. Nehmen Sie mal die Öffis statt des Autos zur Arbeit. Oder fahren am Wochenende mal von Ennepetal nach Essen, um die Enkelkinder zu besuchen. Obacht: In Bus und Bahn gilt Maskenpflicht, je nach Bundesland FFP2 oder Medizinische Maske.

Lektion 4: Die Rush-Hour möglichst meiden!

Auf dem Land haben Sie meist Platz in Bus und Bahn. Aauch da gilt: Morgens fahren Schüler – und es gibt Pendlerströme nach Düsseldorf, Köln und zwischen Ruhrgebietsstädten. Faustregel: In Zeiten, wo der Verkehrslagebericht lang ist, sind auch Züge voll. Viele Apps zeigen an, wie voll die Züge sind.

Lektion 5: Die Fernfahrt.

Sie wollen klimafreundlich in den Urlaub fahren und ganz weit...? Ja, das geht – im Prinzip. Schikane: Sie brauchen viel Zeit, müssen öfter mal umsteigen und ihr Fahrrad braucht eine Fahrradkarte (im VRR 3,70 Euro, bundesweit: 6 Euro pro Tag.) Ob Ihr Hund mitfahren darf, erfordert ein Studium (im VRR schon, aber ohne Sitzplatzanspruch, in Berlin braucht Fiffi ein Ticket, wenn er nicht in einer tragbaren Transportbox reist). Deutschland hat gute 50 Verbünde mit je unterschiedlichen Regelungen. Da wird der Hund in der Transportbox verrückt...

Ohne Hund und Rad gilt: Lektion 5b: Gegen den Strom schwimmen. Wer statt freitags oder Samstagfrüh Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag in Richtung Küste, Berge oder Bodensee aufbricht, hat bessere Chancen auf Sitzplätze und funktionierende Anschlüsse. Aber – das haben Sie in Lektion 2 bemerkt: Oft haben Sie unterwegs längere Pausen. Im Glücksfall reicht das zum Kauf von Kaffee und örtlichen Wurstspezialitäten. Nicht nur in dieser Hinsicht ist Nürnberg ein empfehlenswerter Zwischenhalt. Hier beginnen auch viele sehr lange Regionalzugstrecken, unter anderem nach Hof, München, Lindau.

Lektion 6: Clever umsteigen!

Die Zahl der Umstiege minimieren – und wenn es geht, im Vorort umsteigen. Deutz statt Köln Hbf, Rottendorf statt Würzburg, Frankfurt Süd statt Hbf. Der Vorteil: Wer z.B. in Köln die knallvollen RRX-Züge in Süd, Deutz oder Mülheim besteigt, kann sich vorm Hbf oft einen Sitzplatz sichern, weil dort die Hälfte der Fahrgäste aussteigt (und dafür eine neue Hälfte zusteigt).

Lektion 7: Flusstäler aufsuchen!

Fahren Sie durch Flusstäler. Egal, ob Rhein, Mosel, Saar, Sieg, Lahn, Fulda, Unstrut, Elbe: Hier liegen die schönsten Bahnstrecken Deutschlands. Auf der Siegstrecke ist es egal, ob Sie links oder rechts sitzen, der Zug wechselt dauernd das Ufer. Weitere schöne Routen: hier!

Lektion 8: Den Sportteil lesen!

Oder gucken Sie in die Fußball-App Ihres Vertrauens. In einen Zug mit Fußballfans zu geraten, kann im Idealfall dazu führen, dass Sie bei Anstimmen des korrekten Fangesangs mit Freibier bedacht werden. Sonst aber kann es, bei unglücklichem Spielausgang, eine durchaus anstrengende, lautstarke und mitunter traumatische Bahnerfahrung werden. Vorteil: Sie werden Ihre Fahrkarte nicht einmal zeigen müssen. Kontrolleure oder die üblichen Sicherheitskräfte sehen Sie in aller Regel nicht. Im Zweifel kommt direkt die Einsatzhundertschaft.

Lektion 9: Die Bahn baut!

Die Bahn hat mit Ihnen und dem Neun-Euro-Ticket nicht gerechnet. Deswegen baut sie (nicht nur) in diesem Sommer. So ist (vom 24. Juni bis 7. August) die Strecke von Kleve nach Krefeld dicht, dazu ab und an die Strecke von Emmerich nach Oberhausen. Und die Bahn ist auf die Idee gekommen, die Strecke vom Ruhrgebiet nach Kassel fast während der gesamten „Documenta“ (18. Juni bis 25. September) zu sanieren. Beides ist mit ungefähr fünf Jahren Vorlauf geplant. Na ja, die Installation neuer Gleise ist ja auch eine Kunst…

Trifft leider auch in weiten Teilen die schöne Obere Ruhrtalstrecke Hagen-Brilon--Kassel (siehe Lektion 7). Näheres zu Baustellen, u.a. zwischen Düsseldorf und Köln unter: www.bahn.de/aktuell und inside.bahn.de/großbaustellen.

Lektion 10: Setze niemals auf den letzten Zug!

Die Chance ist groß, dass bei fünf Umstiegen irgendwas schief geht. Macht nix, außer Warterei (also: Kioskbesuch und Wurstkauf, siehe Lektion 5b). Weil die meisten Linien im Stundentakt fahren, geht es dann doch irgendwann weiter. Es sei denn, Sie haben auf den letzten Zug spekuliert…

Lektion 11: Extra-Länderpunkt sichern (und vielleicht doch IC fahren...)

És ist per se schon eine schöne Strecke: Mit dem RRX 5 zwischen Wesel und Düsseldorf aufbrechen Richtung Koblenz und dort umsteigen Richtung Mosel in den RE1/RE11 Richtung Trier. Wer im richtigen Zugteil sitzt (RE11), ist von Koblenz aus in fünf Viertelstunden in Luxemburg, hat im Dörfchen Igel Deutschland verlassen und fährt trotzdem ganz legal weiter. Denn Luxemburg braucht kein 9-Euro-Ticket: Nahverkehr ist in der Zweiten Klasse gratis. Im ganzen kleinen Großherzogtum. Chapeau!

Schick und kostenlos nutzbar: Der Nahverkehr im Nachbarland. Seit März 2020 sind Busse und Bahnen in  Luxemburg frei zur Nutzung.
Schick und kostenlos nutzbar: Der Nahverkehr im Nachbarland. Seit März 2020 sind Busse und Bahnen in Luxemburg frei zur Nutzung. © dpa | Harald Tittel

Wer versehentlich im RE1 sitzengeblieben ist, macht eine schöne Tour die Saar aufwärts bis Saarbrücken und durch die Pfalz über Kaiserslautern wieder ostwärts nach Mannheim.

Noch offen ist, ob auch Neun-Euro-Ticket-Kunden IC fahren dürfen, wo diese sonst für Nahverkehrsticketnutzer freigegeben sind – wir haben die Strecken mal orange markiert und letzten Dienstag angefragt. Weiß noch keiner. Schwacher Trost: Der Westfalen-IC zwischen Iserlohn-Letmathe nach Dillenburg ist sowieso meist verspätet...

Lektion elfeinhalb: Sylt mit Stil

Schalten Sie aus Spaß mal bei der Verkehrsmittelwahl auf „Alle“. Gestern gab es z.B. die Fahrkarte von Duisburg nach Sylt z.B. am 13. Juli zu angenehmen Reisezeiten (9.47 Uhr abfahren, 16.35 Uhr ankommen) für 39,90 Euro. Ohne Bahncard, zwei Stunden Fahrzeit und vier Umstiege gespart, Entschädigung bei Verspätung. Für 56 Euro gibt’s sogar 1. Klasse samt Sitzplatzreservierung. Wenn schon Sylt, dann so. Oder?

Für Bayern-Fans: Oberstdorf ist am gleichen Tag sogar für 35 Euro (1. Klasse 44 Euro) erreichbar. Spart gute drei Stunden und sechs Umstiege..

Und zurück können Sie ja immer noch mit dem Neun-Euro-Ticket fahren...