Interview mit Bestseller-Autorin Johanna Romberg: Klimaschutz allein reicht nicht. Es fehlt eine Bürgerbewegung für den Erhalt der Artenvielfalt.

Auf den ersten Blick war es ein federleichtes Projekt. Johanna Romberg veröffentlichte ein Buch über das „Glück, Vögel zu beobachten“. „Federnlesen“ wurde zum Überraschungsbestseller unter den Sachbüchern. Die preisgekrönte Autorin beflügelte erstaunlich viele Menschen, die Natur bislang nur als hübsche Deko für den Sonntagsausflug gesehen hatten. Aber Hinschauen reicht Romberg nicht. Vor unseren Haustüren wird täglich ein unermesslicher Schatz zerstört, mahnt sie. Das Artensterben ist neben dem Klimawandel die größte Gefahr für den Planeten. Höchste Zeit, „Fridays for Future“ durch eine zweite Bewegung zu verstärken: Mondays for Nature!

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In Ihrem neuen Buch stellen Sie unermüdliche, erfolgreiche Naturschützer vor und fordern dringend politische Unterstützung für diese Alltagshelden...

Romberg: Ja, die braucht es unbedingt. Ich beobachte die Natur nun seit fast 50 Jahren und sehe, mit welch bedrückender Geschwindigkeit viele Arten verschwinden. Die Gesetze zum Schutz der Natur wirken zu wenig, werden oft nicht eingehalten. Diverse Programme und Offensiven zum Erhalt der Biodiversität, die die Bundesregierung seit der Jahrtausendwende verabschiedet hat, sind krachend gescheitert. Seit den 1980er Jahren ist die Menge der Insekten um über 75 Prozent zurückgegangen, hat Europa ein Fünftel aller Vögel verloren. Und schon vor 40 Jahren war der Schwund längst in vollem Gange.

Kann das auch der Laie erkennen?
Auf jeden Fall. Wer in den letzten Jahren mit offenen Sinnen durch die Landschaft gegangen ist, kann es nicht übersehen oder -hören. In den 70er/80er Jahren war ich mit meinen Eltern viel am Niederrhein unterwegs, das war damals ein Vogelparadies. Über den Feldern lag ein Klangteppich aus Feldlerchengesang, die Wiesen wimmelten von Kiebitzen; Rebhühner und Brachvögel waren ein vertrauter Anblick. Alles dahin. Allein in NRW sind über 50 Prozent der Feldlerchen, 90 Prozent der Rebhühner verschwunden. Man sieht kaum noch Schmetterlinge. Was über Allerweltsvogelarten wie Amsel, Kohlmeise, Ringeltaube hinausgeht, ist vielerorts zur Rarität geworden.

Naturschützer sind sich einig, dass vor allem die industrialisierte Landwirtschaft dafür verantwortlich ist.
50 Prozent der deutschen Landesfläche sind Agrarland. Was darauf passiert, hat also enormen Einfluss. In den 50er Jahren ernährte ein Landwirt 17 Menschen, heute sind es 140. Dieser Erfolg hat seinen Preis: Aus einem bunten Mosaik von Feldern, Brachen, Hecken, Tümpeln und Feldrainen sind längst riesige, einförmige Nutzpflanzenkulturen geworden. Blühende Wiesen wurden in intensiv gedüngte Grasäcker verwandelt, die bis zu sechs Mal im Jahr gemäht werden. Da kommt kein Wildkraut mehr hoch, an dem sich Insekten nähren könnten, da kann kein Vogel nisten.

Der Wiedehopf wurde zum Vogel des Jahres 2022 gewählt. Er braucht offene, insektenreiche Landschaften, die in Deutschland rar geworden sind.
Der Wiedehopf wurde zum Vogel des Jahres 2022 gewählt. Er braucht offene, insektenreiche Landschaften, die in Deutschland rar geworden sind. © epd | imageBROKER

Und all die EU-Programme, die Landwirtschaft grüner und naturverträglicher machen sollen?
Sie wirken leider, wenn überhaupt, nur punktuell. Viele Natur- und Klimaschutzmaßnahmen werden von den Bauern kaum angenommen, weil sie unterfinanziert oder mit zu viel Bürokratie verbunden sind. Und natürlich sind fast alle freiwillig. Deshalb bleibt die konventionelle Landwirtschaft ein fast flächendeckender Feldzug gegen die Natur. Die daneben natürlich noch von anderen Faktoren bedroht wird: Ein großes Problem ist etwa die Flächenversiegelung; 60 Hektar Boden verschwinden – jeden Tag! – in Deutschland unter Asphalt.

Warum ist Artenschutz immer noch so unpopulär? Woher die Häme gegen eine Feldlerche, die angeblich das Ed-Sheeran-Konzert vergraulte?
Die Naturliebe der Deutschen ist sehr unverbindlich. Das zeigt sich immer dann, wenn geschützte Arten oder Lebensräume irgendwelchen Bauprojekten oder auch nur Spaß-Interessen im Weg sind. Dann entdecken viele erstaunt, dass Naturschutz keine Sonntagsveranstaltung ist, sondern auf eindeutigen Gesetzen beruht. So ist es strafrechtlich verboten, Brutplätze besonders geschützter Arten zu beschädigen oder zu zerstören, und zu diesen Arten gehört auch die Feldlerche. Im Fall von Ed Sheeran ist also nur das Gesetz angewandt worden.

Und ganz so einsam war die Lerche nicht...
Ja, das fällt immer unter den Tisch: Es geht beim Natur- und Artenschutz fast nie um einzelne Tiere, sondern um Lebensgemeinschaften. Auch die Feldlerche steht für eine solche Gemeinschaft, ein Ökosystem, dem Dutzende Arten angehören – Pflanzen, Insekten, Vögel.

Allein in NRW sind über 50 Prozent der Feldlerchen verschwunden. Noch in den 80er Jahren galten sie als Allerweltsvögel.
Allein in NRW sind über 50 Prozent der Feldlerchen verschwunden. Noch in den 80er Jahren galten sie als Allerweltsvögel. © NABU | Manfred Delpho

In Deutschland gibt es etwa 48.000 Tier-, 9500 Pflanzen- und 14.400 Pilzarten. Brauchen wir jede einzelne?
Gegenfrage: Auf welche genau sollen wir verzichten, und warum? Es ist einfach keine gute Idee, ein Netzwerk von Leben, eine Artenfülle, die in Abermillionen Jahren entstanden ist, für kurzfristige Interessen bedenkenlos zu zerstören. Wir erleben gerade das 6. Massenaussterben der Erdgeschichte, es ist das erste, das wir Menschen selbst anrichten. Täglich gehen weltweit 100 Arten für immer verloren – zehn bis 100 Mal so viele, wie von Natur aus verschwinden würden. Viele verkennen: Es geht nicht nur darum, dass wir uns beim Frühjahrsspaziergang weiterhin an ein paar hübschen Gesängen erfreuen können. Wir sind ein Teil dieses Lebensnetzwerkes, wir sind darauf angewiesen!

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Man spricht auch von Ökosystem-Dienstleistungen...
Ich mag das Wort eigentlich nicht, weil es so klingt, als sei die Natur uns was schuldig. Aber, ja, allein die Bestäubungsarbeit der Insekten ist, nach wissenschaftlichen Berechnungen, um die 150 Milliarden Euro wert. Im Boden arbeiten Myriaden winzig kleiner Tiere, ohne deren Aktivität nichts wächst, nichts fruchtet, da können Sie noch so viel Dünger drauf schmeißen. Außerdem sind Insekten und andere Kleinlebewesen ein wichtiger Teil der Nahrungskette, und je größer ihre Vielfalt, desto geringer auch die Gefahr, dass einige von ihnen als Schädlinge überhandnehmen. Man kann zwar nicht von allen Leuten erwarten, dass sie sich zu Naturliebhabern entwickeln. Aber man kann jedem begreiflich machen, dass wir ohne große Artenvielfalt auf dieser Erde nicht überleben werden.

Sind manche Tiere durch Technik ersetzbar?
Erschreckenderweise wird darüber tatsächlich schon nachgedacht. Gerade in unserem Land gibt es eine Vorliebe für technische Lösungen; wir behandeln viele unserer Naturschätze so, als könne man zum Beispiel Trauerseeschwalben im 3-D-Drucker neu erschaffen. Es gibt bereits Versuche, winzige Drohnen zur Bestäubung einzusetzen. Das ist einfach nur dumm, weil es ungleich teurer und nicht entfernt so effizient ist wie das, was die Natur gratis für uns leistet. Wer möchte schon 15 Euro für 100 Gramm Aprikosen zahlen?

Was kostet der Erhalt der Arten?
Bei den derzeit laufenden Verhandlungen für ein neues Weltnaturabkommen wurde der Finanzbedarf für einen wirksamen globalen Naturschutz auf 700 Milliarden Dollar geschätzt. Zum Vergleich: Die weltweiten Militärausgaben lagen 2021 bei knapp 2000 Milliarden. Allein mit den 100 Milliarden, die im Bundestag mal so eben für die Bundeswehr angekündigt wurden, könnte man den Natur- und Artenschutz in Deutschland locker die nächsten 30, 40 Jahre finanzieren.

Dass wir Naturfreunde von solchen Summen bislang nur träumen können, liegt auch daran, dass Naturzerstörung nach wie vor weitgehend gratis ist, jedenfalls für die Verursacher. Die Folgekosten, etwa für die Nitratverseuchung des Grundwassers, die Vernichtung von Insektenvielfalt, die durch Bodenversiegelung erhöhte Hochwassergefahr, die Aufheizung des Klimas – all das zahlt nach wie vor die Gesellschaft. Allein die landwirtschaftliche Nutzung entwässerter Moorböden verursacht pro Jahr Klimafolgekosten von 7,2 Milliarden Euro – das haben Forscherinnen des Greifswald Moor Centrums berechnet, auf Basis eines (realistischen) CO2-Preises von 180 Euro pro Tonne. Die Wiedervernässung von Mooren wäre ein dreifacher Gewinn – für Natur, Klima und den Bundeshaushalt.

Wenn sich alle Flüsse wieder so natürlich ausbreiten dürften, gäbe es weniger Hochwasser: Die renaturierte Lippe-Mündung bei Wesel.
Wenn sich alle Flüsse wieder so natürlich ausbreiten dürften, gäbe es weniger Hochwasser: Die renaturierte Lippe-Mündung bei Wesel. © www.blossey.eu | Hans Blossey

Deswegen wird sie mittlerweile auch von Fridays for Future gefordert
Das stimmt, und das ist großartig. Ich habe viel Sympathie für die „Fridays“. Aber sie sind vor allem eine Klimaschutzbewegung, die Natur und Biodiversität nicht immer so auf dem Schirm hat. Und manchmal, mit Verlaub, auch suggeriert, durch konsequentes CO2-Sparen sei die Natur sozusagen automatisch mitgerettet. Das ist aber leider nicht so. Wer gegen Braunkohlekraftwerke protestiert – was absolut richtig ist! – der rettet damit noch keine artenreichen Magerrasenbiotope, befreit keine kanalisierten Fließgewässer, bewahrt keinen Wald davor, zu angeblich klimaneutralen Holzpellets verarbeitet zu werden. Es bräuchte eine eigene Bewegung, die nach dem Vorbild von Fridays for Future für die Natur Rabatz macht, genauso laut und engagiert. Mondays for Nature eben!

Warum passiert das nicht schon?
Da muss ich selbstkritisch mit meinesgleichen sein. Wir Naturschützenden sind gut darin, Biotope zu pflegen, Bienenweiden anzulegen, Vögel und Falter zu zählen, aber wir sind im allgemeinen nicht sehr organisationsfreudig. Das liegt auch daran, dass die meisten von uns nicht „die Biodiversität“ als großes Ganzes im Blick haben, wie die „Fridays“ das Klima, sondern sich eher auf bestimmte Artengruppen konzentrieren, und auf die Naturschätze vor der eigenen Haustür. Das ist auch okay, aber es motiviert nicht unbedingt, sich zu einer bundesweiten Bewegung zusammenzuschließen. Doch das sollten wir. Wir müssen geschlossener, öffentlichkeitswirksamer, auch konfliktfreudiger werden, um etwas zu bewegen. Die verdienstvollen Verbände NABU und BUND könnten dazu beitragen – indem sie weniger Anleitungen zu Nistkastenbau und Blühwiesenpflege veröffentlichen, sondern ihren Mitgliedern Tutorials im Durchfechten von Naturschutzgesetzen geben.

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Sie selbst sehen sich nicht an der Spitze einer solchen Bewegung?
Nein, ich bin eine kleine Autorin, keine charismatische Organisatorin. Wir brauchen mehr Leitfiguren wie es früher Horst Stern war, heute der Förster Peter Wohlleben ist oder auch die NABU-NRW-Vorsitzende Heike Naderer. Die legt sich ebenso entschieden wie sachkundig mit der Windkraftlobby an, die zum Teil mit fragwürdigen Methoden gegen den Artenschutz mobil macht. Wir brauchen mehr Wumms!


Ihre Bücher hauen aber ordentlich rein...
Ja, weil ich mich der Natur unendlich verbunden fühle und es mir weh tut mitanzusehen, was ihr angetan wird. Aber diese Liebe zur Natur, die Verbundenheit mit ihr, ist auch der beste Antrieb, sich trotz allem für sie zu engagieren und andere Menschen für ihren Schutz zu begeistern. Wir Naturschützenden sind ja gegenüber den Klimaschützern in einem wichtigen Punkt im Vorteil: Diese sehen die Früchte ihres Engagements erst in vielen Jahrzehnten, wenn überhaupt. Wir dagegen werden im Idealfall früher belohnt. Wenn man den Bach vor der Tür renaturiert, einen sterilen Rasen in eine blühende Wiese verwandelt, beobachtet, wie die Pflanzen wieder sprießen, die Tiere zurückkehren... Naturschutz kann so unglaublich beglückend sein. Das versuche ich rüberzubringen. Aber in Aktion treten müsst Ihr, liebe Leserinnen und Leser!

Die Grüne Neune: Das Erste-Hilfe-Programm zur Wiederbelebung der Artenvielfalt

Die Folgen des Artensterbens werden dramatisch unterschätzt, die Politik muss handeln – und zwar schnell: Johanna Romberg will mit ihrem neuen Sachbuch („Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht“) dazu anregen, dass sich alle Naturschützenden in der Bürgerbewegung „Mondays for Nature“ zusammenschließen. Kontinuierliche Montagsdemos sollen den Forderungskatalog unüberhörbar machen: Die „Grüne Neune“ – das sind neun sofort umzusetzende Erste-Hilfe-Maßnahmen zur Wiederbelebung der biologischen Vielfalt.
1. Platz da! Die 8833 Naturschutzgebiete nehmen in Deutschland nur 6,3 Prozent der Landesfläche ein. Nötig sind mindestens 20 Prozent, das ist immer noch unter dem EU-Schnitt von 23 Prozent.
2. Finger weg! Schluss mit der „Landwirtschaftsklausel“ im Bundesnaturschutzgesetz: Keine Sonderrechte mehr für Land- und Forstwirtschaft in Naturschutzgebieten.
3. Zupacken! Über ein Drittel aller besonders schutzwürdigen Tiere und Pflanzen und knapp die Hälfte aller für die Natur bedeutenden Lebensräume sind in einem schlechten Zustand – Deutschland verstößt damit gegen EU-Verträge.
4. Geld her! Für die Erhaltung schutzwürdiger Arten und Lebensräume sind laut Bundesumweltministerium 1,4 Mrd. Euro jährlich nötig, Bund und Länder investieren bisher nur 600 Millionen Euro.
5. Brücken bauen! 19 Millionen Säugetiere und Vögel sterben jährlich auf deutschen Straßen. Es fehlt ein Netzwerk aus Querungshilfen und Naturstreifen, die Lebensräume wieder miteinander verbinden.
6. Weg Dammit! Die Idee stammt aus Österreich: Europäische Fließgewässer sollen wiederbelebt werden, weg mit allen ökologisch schädlichen Dämmen.
7. Mehr Platz!! Die Grünraumoffensive: Für jeden Quadratmeter, der für neue Bauprojekte versiegelt wird, muss die vierfache Fläche für Wildtiere und -pflanzen geschaffen werden.
8. Kinder, auf die Bäume! Naturkunde und Exkursionen werden wieder fester Bestandteil des Biologieunterrichts.
9. Alle nach draußen! Es gibt viel zu tun und zu genießen in der Natur. Kommen Sie raus! Engagieren Sie sich!

Johanna Romberg: Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht, 288 Seiten, Quadriga Verlag, 28 €
Johanna Romberg: Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht, 288 Seiten, Quadriga Verlag, 28 € © Quadriga | Nele Braas

Über Johanna Romberg:

Johanna Romberg.
Johanna Romberg. © Nele Braas

Die gebürtige Duisburgerin (Jahrgang 1958) war in den 1980er Jahren freie Mitarbeiterin der Neuen Ruhr Zeitung in Essen. Nach dem Studium der Schulmusik und Hispanistik in Köln und Sevilla und der anschließenden Journalistenausbildung an der Henri-Nannen-Schule arbeitete sie 30 Jahre lang als Redakteurin und Autorin für das Magazin GEO. Für ihre Reportagen wurde Johanna Romberg mehrfach ausgezeichnet, unter anderem zweimal mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis sowie dem Georg-von-Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus. 2018 erschien ihr hochgelobtes Debüt „Federnlesen“ (Lübbe Verlag). Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Lüneburger Heide.