Hermann-Josef Windeln ist ein unermüdlicher Naturschützer. Der Hobby-Insektenforscher aus Geldern versucht zu retten, was zu retten ist.
Geldern. Der Stachel sitzt. Aber wen juckt’s? Vor gut vier Jahren sorgte die „Krefelder Studie“ zum Insektensterben weltweit für Entsetzen unter Experten – Otto Normalverbraucher merkt davon wenig. Auf deutschen Feldern werden weiter die Pestizide gespritzt, die zu den Hauptursachen der Naturkatastrophe zählen. Die New York Times warnte ganzseitig vor der „biologischen Apokalypse“, als am Niederrhein nachgewiesen wurde, dass die Masse der Flug-Insekten um fast 80 Prozent abgenommen hat. Seitdem werden international mehr oder weniger emsig Programme zur Rettung der Artenvielfalt angekündigt, doch die sind noch im Larven-Stadium. Die Menschheit nimmt achselzuckend zur Kenntnis, dass Windschutzscheiben weniger verschmiert sind, besorgtere Zeitgenossen kaufen beim Discounter schnell ein Insektenhotel. Hermann-Josef Windeln, pensionierter Lehrer und Mitglied des mittlerweile in Fachkreisen legendären Entomologischen Vereins Krefeld, gehört zur aussterbenden Art der Naturschützer, die Tag und Nacht um jedes Insekt kämpfen – mit Kettensäge und Mikroskop.
„Iiih – wie Insekt… habe ich damals an die Schultafel geschrieben“, erinnert sich der 71-Jährige: „Insekten haben einen schlechten Ruf, sie sind die Bösen, die stechen. Deshalb kümmern sich nur wenige.“
Über 40 Prozent der Schmetterlinge sind ausgestorben
Käfer sammeln… sowas wird oft als wunderliches Hobby abgetan. Sind nicht eher wir die Weltfremden? Mindestens 70 Prozent aller Tiere sind Insekten. Wie kann man diese gigantische Gruppe und ihren Untergang übersehen?
Der Hobby-Entomologe zeigt auf sein Profi-Mikroskop: „Schauen Sie, die Goldwespe... wie ein Edelstein!“ Unterm Objektiv erstrahlt ein fremdes Universum. Das heimische Insekt funkelt rot, blau, golden, als hebe man den Deckel einer Schatzkiste. Ja, die kindliche Faszination des Entdeckens ist ein schöner Antrieb, „denn man schützt nur, was man kennt und liebt“, weiß der Gelderner. Aber hier geht es nicht mehr um Spaß. Die Hälfte aller deutschen Wildbienenarten kämpft ums Überleben, 41 Prozent unserer Schmetterlinge sind ausgestorben. Horchen Sie doch! In der Natur wird es still, das Summen und Brummen verstummt.
Neonicotinoide: 10.000 Mal giftiger als DDT
Schuld ist vor allem die Industrialisierung der Landwirtschaft. Felder müssen liefern wie Fabriken: „Die Neonicotinoide, mit denen Saatgut gebeizt wird, sind für Insekten 10.000 Mal giftiger als das in den 70ern verbotene DDT.“ Nicht nur der Fachmann kann die Folgen auf einem nahen Firmen-Parkplatz mit bloßem Auge erkennen: Um die 1500 Watt-Laternen kreisten früher im Sommer meterhohe Insektenschwärme. Voriges Jahr sah er zur gleichen Zeit im Schnitt: drei Nachtfalter. „Und das ist der Befund weltweit, in Brasilien genauso wie am Niederrhein.“
Die Zählungen beweisen das. Insekten zählen? Klingt irrwitzig. Aber das sogenannte Monitoring ist eine wissenschaftliche Königsdisziplin, die Grundlage für effektiven Naturschutz. Kaum jemand war so fleißig wie die Krefelder Entomologen, die unsere Insekten-Bestände seit Jahrzehnten verfolgen (siehe unten). Hermann-Josef Windeln ist zuständig für die Stechimmen, zu denen Bienen, Hummeln, Hornissen und bestimmte Wespenfamilien gehören. Meistens spricht er liebevoll von „Bienchen“.
Ein unermesslicher Schatz
Schon 1988 hatte der Hauptschullehrer die Naturschutzbund (NABU)-Ortsgruppe Issum/Geldern gegründet. Mit seiner Pensionierung 2013 vertiefte er sich in „die Sisyphosarbeit des Insekten-Bestimmens“, lernte mit Hilfe des Kölner Bienenexperten Dr. Jürgen Esser fünf Jahre lang, wie man zum Beispiel die 561 deutschen Wildbienenarten unterscheidet. Ein Puzzle mit Abertausend Teilen. Bei jedem Tier prüft man unter 50-100facher Vergrößerung zahllose Mikro-Details: Verläuft das Äderchen links auf dem Flügel? Sind die Fühler keulig verdickt?
Wem nützt es, wenn man die Nashornkäferdolchwespe identifiziert, auf eine Nadel spießt, mit einem winzigen Zettel versieht und neben hundert Verwandten in einem Glaskasten aufbewahrt? Zwar funkeln nicht alle so prächtig wie die Goldwespen, aber Windelns Insekten-Kästen sind ein Schatz – eine kostbare Datenbank für die Wissenschaft. Die zeitraubende Kunst des Bestimmens von Stechimmen unterm Mikroskop beherrschen nur noch wenige. Ausgerechnet im Zeitalter des Insektensterbens lehrt kaum eine Universität diese Fertigkeit. In der Regel werden Insekten-Arten heute durch DNA-Analysen bestimmt. Das geht natürlich schneller, liefert aber keine Details über unbekannte Arten.
„Wir müssen sichern, was noch da ist“, erklärt der Naturschützer den Wettlauf mit der Zeit. „Viele Arten werden ausgerottet, bevor wir sie kennen.“ Mindestens ein Drittel aller Insekten in Deutschland ist unerforscht. Ein unermessliches Potenzial verschwindet. Denn die Natur hat uns Millionen Jahre Erfahrung mit High-Tech-Lösungen fürs Überleben voraus. „Anstelle der Pestizide kann der Bauer zur Bekämpfung des gefürchteten Maiszünslers beispielsweise eine Schlupfwespenart einsetzen“, sagt Windeln. Im Fachhandel werden Kärtchen mit Eiern dieser Nützlinge angeboten. Doch die billigeren Pestizide finden reißenden Absatz – und landen im Köper von Bienen, Käfern und Co.. „Eine neue Studie, an der die Krefelder Entomologen beteiligt waren, ergab, dass Insekten in deutschen Naturschutzgebieten mit durchschnittlich 16 verschiedenen Pestiziden kontaminiert sind.“
Überzeugungsarbeit bei den Landwirten
Verzweiflung liegt nicht in der Natur des elffachen Großvaters: „Ich bin Optimist, es ist gigantisch, mit welcher Macht die Artenvielfalt zurückkommt, wenn man sie lässt.“ Das bestätigen seine akribischen Zählungen. Der ehemalige Lehrer für Mathe und Religion leistet Überzeugungsarbeit bei den Bauern und Verbrauchern, zeigt ihnen, was passiert, wenn man auf Gift verzichtet.
Allein auf einer 2500 Quadratmeter kleinen Fläche in Kevelaer, einer von vielen, die Hermann-Josef Windeln betreut, hat er gerade 270 Insekten- und Spinnenarten, 14 Vogelarten (darunter das extrem selten gewordene Rebhuhn) und 82 Pflanzenarten entdeckt.
Solche Erfolge geben Kraft für die Fülle der anderen Projekte. Eine Handvoll Unermüdliche vom NABU schaffen rund um Geldern blühende Biotope für Insekten, befreien mit Kettensägen und Heckenschere regelmäßig die Waldränder von Brombeerhecken, pflegen Wildwiesen, Gewässerränder, Kopfweiden...
Manchmal blickt der Niederrheiner neidvoll über die nahe Grenze: „Im kleinen Holland engagieren sich 800.000 Ehrenamtler im Naturschutz.“ Hermann-Josef Windeln hofft, dass die Heerscharen aus der Babyboomer-Generation, die derzeit in Rente gehen, vom Sofa runterkommen und mit anfassen. Die Insekten arbeiten ja auch lebenslang dafür, dass unsere Welt weiter blüht.
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Ansprechpartner der NABU-Ortsgruppen finden Sie unter www.NABU-NRW.de oder telefonisch und per Mail unter 0211-15 92 51-0, Info@NABU-NRW.de
- „Krefelder Studie“ lieferte die Beweise für das große Insektensterben
- Der „Entomologische Verein Krefeld“ schuf eine spektakuläre Datensammlung: Von 1989-2016 untersuchten die Insektenforscher den Bestand der Flug-Insekten – dazu gehören 90 Prozent aller Insekten.
- Die Krefelder stellten an 63 Orten in deutschen Naturschutzgebieten zeltähnliche sogenannte „Malaise“-Fallen auf. Die Insekten gelangen durch einen Stofftrichter in Flaschen mit einer Alkohollösung.
- Diese „Biomasse“ wird nach speziellen Methoden gewogen. Ergebnis: Die Menge der Flug-Insekten sank in 27 Jahren um fast 80 Prozent.
- Erstmals wurde damit das dramatische Insektensterben durch eine Langzeitstudie belegt. Das sorgte international für Aufsehen in den Medien und der Fachwelt.
- Der leitende Entomologe Dr. Martin Sorg bekam dafür 2020 den Deutschen Umweltpreis (Kategorie: Ehrenpreis).