An Rhein und Ruhr. Ein Artikel der NRZ über den Fund der Leichen von Mutter und Tochter in Kranenburg regt einen Leser zum Widerspruch an. Eine bewegende Geschichte.
„Vielleicht“, so endet der Brief des Lesers, „wird eines Tages in der NRZ auch über mein Auffinden nach Tagen berichtet werden, weil der Gestank meiner verwesenden Leiche im Hochhaus unerträglich wurde ...“ Starker Tobak! Der Kommentar in der Zeitung hatte einen Nerv getroffen. Das Thema war das Erschrecken über den tragischen Tod von Mutter und Sohn in Kranenburg. Lange hatte sie niemand vermisst. Man tue gut daran, schrieb ich danach in der NRZ, sich beizeiten anderen Menschen gegenüber zu öffnen, Kontakte in der Nachbarschaft zu knüpfen, freundlich zu den Menschen im Viertel zu sein … „Ihr Ausspruch ist richtig“, schrieb mir noch am gleichen Tag der Leser, „aber leider nicht immer umsetzbar, nicht in unserer heutigen Gesellschaft.“
In den vergangenen Monaten ist viel über die Einsamkeit in der Pandemie und die gesundheitlichen Folgen für viele Menschen berichtet worden. Bei der Telefonseelsorge melden sich viel mehr Anrufer, in Japan gibt es nun ein Einsamkeitsministerium, und SPD, FDP und Grüne haben das Thema in ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben. Forscher sagen, man könne Einsamkeit nicht pauschal betrachten. Es sei wichtig, den Einzelnen in seinem Leiden wahrzunehmen.
Schon vor der Geburt musste er um sein Leben kämpfen
Per Mail habe ich den Leser um ein Gespräch gebeten. Anderthalb Stunden haben wir dann geredet. Eine ganz besondere Geschichte, sicher kein Einzelfall. Der 58-Jährige verzweifelt nicht an seiner Einsamkeit, aber er nimmt sie wahr. Und er ist einverstanden, dass in der Zeitung darüber geschrieben wird, aber bitte ohne Namen.
Schon vor seiner Geburt im Sommer ‘63 hat er begonnen, um sein Leben zu kämpfen. Die Mutter – er spricht von „der Gebärerin“ – hat ihn nicht gewollt, hat den Sohn schon während der Schwangerschaft zur Adoption freigegeben – so wie ihre anderen Kinder auch. „So bin ich schon mit einer posttraumatischen Belastungsstörung auf die Welt gekommen“, sagt er.
Tagelang tot in Wohnung: Kranenburg "leider kein Einzelfall"
Seine richtige Mutter, sein richtiger Vater – dazu wurden dann die Adoptiveltern. Selbst kinderlos, nahmen sie den Jungen auf. Erst zur Pflege, weil das Jugendamt noch warten wollte, ob die leibliche Mutter sich doch noch um ihn kümmern wollte. Wollte sie nicht.
Der Arzt sagt: „Wenn Sie erwachsen sind, werden Sie blind sein“
Die neuen Eltern waren ein Glücksfall. „Ich habe es sehr gut getroffen“, sagt er heute. Von seiner biologischen Familie hat er ein schweres Erbe mitbekommen. Als er 16 war, fiel in der Schule auf, dass er die Schrift auf der Tafel, geschrieben mit roter Kreide, nicht sehen konnte. „Wenn Sie erwachsen sind, werden Sie blind sein“, sagte der Augenarzt damals dem Jugendlichen. Zwei Prozent Sehkraft sind geblieben, gesetzlich ist er blind, seit vielen Jahren arbeitsunfähig.
Aber er lebt auch mit einer seelischen Hypothek. Seit Kindertagen leidet er an Autismus, einer Entwicklungsstörung, die ihm die Aufnahme und Pflege von Kontakten zu anderen Menschen fast unmöglich macht. Er leidet an einer leichteren Form von Autismus, dem Asperger-Syndrom. Asperger-Autisten können mit guter Therapie, gutem Training und starkem Willen immerhin noch eigenständig ihr Leben führen.
Und die Eltern haben für Therapie und Training gesorgt. Kontakt zu Gleichalterigen hat es trotzdem so gut wie nie gegeben. „In der Grundschule hat meine Mutter mal Kinder zu einer Party eingeladen, damit ich nicht immer allein war“, erinnert sich der 58-Jährige gut. Der Versuch endete im Fiasko: „Als das erste Kind im Garten auftauchte, bin ich weggerannt und habe mich versteckt.“
Seit dem Tod der Mutter hat er Weihnachten nie mehr gefeiert
Er hat einen Beruf erlernt, zusammen mit den Eltern bis zu seiner Erblindung freiberuflich gearbeitet. Und mit den Eltern gewohnt und gelebt. Bis seine Mutter völlig unerwartet an einem Heiligen Abend an einem Aneurysma im Gehirn starb. Das ist mehr als zehn Jahre her. „Seitdem haben Vater und ich nicht mehr Weihnachten gefeiert.“
Vor zwei Jahren starb auch der Vater. „Die Zeit war einfach gekommen“, sagt der Sohn. Dabei haben sie noch Glück gehabt. Er war der letzte Besucher, der vor dem ersten Corona-Lockdown noch ins Krankenhaus durfte. „Die ganze Nacht habe ich Vaters Hand gehalten, bis zu seinem letzten Herzschlag.“
Danach fiel er dann in eine tiefe Depression, die nun mit Medikamenten behandelt wird. Die letzten Jahre hatte der Vater intensiv mit ihm trainiert, sich in der dunklen Welt zurechtzufinden: mit Stock, mit vielen elektronischen Hilfsmitteln. Er hat Zugriff auf eine Hörbücherei für Blinde, kann sich das E-Paper der NRZ jeden Morgen am PC per Mausklick vorlesen lassen. Und er kann noch Geige und Heimorgel spielen. „Trompete kann ich auch, aber das wäre für die anderen hier im Hochhaus zu laut“, sagt er.
Er geht kaum raus. Die kleine Wohnung ist seine Welt
Wer auf seiner Etage und in den anderen Etagen lebt, das weiß er gar nicht. Es hat Mieterwechsel gegeben, und er kann sowieso niemanden ansprechen. Einmal in der Woche geht er in den nahen Supermarkt, ansonsten ist die kleine Wohnung seine Welt.
„Ich leide nicht an meiner Einsamkeit“, sagt er. „Das bin ich, das ist mein Leben.“ Aber die Gespräche mit Mutter und Vater fehlen nun. Schön wäre es doch, wenn ihn mal jemand ansprechen würde, nur mal „Wie geht es Ihnen?“ sagen würde. „Das würde mir guttun.“ Aber wenn er mit Stock und Blindenbinde unterwegs ist, machen die Leute einen Bogen um ihn, wohl aus Rücksicht.
Der 58-Jährige musste lernen, mit sich alleine zurechtzukommen. Das geht gut, solange er körperlich fit ist. Und wenn ihm doch mal was zustößt? Er kommt auf den Ausgangspunkt des Gespräches zurück: „Kann sein, dass ich hier liege und nicht gefunden werde.“ So wie er das sagt, hat man den Eindruck, dass er davor keine so große Angst hat. Jedenfalls nicht so groß wie davor, selbst Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen zu müssen.