Münster. Seit dem Wochenende flammen im Nachbarland wieder Corona-Krawalle auf. Warum die Gewalt eskalieren konnte, beschreibt ein Niederlande-Experte.

Angriffe, Brandstiftungen und Vandalismus: Als „Orgie der Gewalt“ machten die Ausschreitungen rund um Corona-Demonstrationen in den Niederlanden am Wochenende Schlagzeilen. Bereits Anfang des Jahres gab es anlässlich der Ausgangssperre Krawalle im Nachbarland von NRW, an denen auch zahlreiche Minderjährige beteiligt waren. Nun ist die Gewalt zurück auf den Straßen. Niederlande-Redakteurin Madeleine Hesse sprach mit Friso Wielenga, ehemaliger Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien der Uni Münster, darüber, woher diese offenbar tiefsitzende Aggression rührt und ob angesichts der sich zuspitzenden Coronalage auch mit weiteren Ausschreitungen zu rechnen ist.

Seit Kurzem befinden sich die Niederlande im Teillockdown und die Krawalle flammen wieder auf - eine Überraschung?

Friso Wielenga: Ich glaube, dass es für die Polizei und die Politik in den Niederlanden tatsächlich eine große Überraschung war. Das merkt man auch daran, dass die Polizei überhaupt nicht auf die Ausschreitungen vorbereitet war und dass am Freitagabend in Rotterdam mobile Einheiten aus anderen Städten dazukommen mussten. Die Art und Weise, auf die es am Freitag zu dieser ’Orgie der Gewalt’ kam, wie der Rotterdamer Bürgermeister die Krawalle nannte, war unerwartet.

Hätte die Politik nicht mit neuen Ausschreitungen rechnen müssen, wenn sie wieder härtere Maßnahmen verkündet?

Hinterher ist man immer schlauer. Es ist einfach zu sagen, dass die Polizei und die Bürgermeister das verschlafen hätten. Andererseits hat sich die Lage seit Januar weiter zugespitzt. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik ist in diesem Jahr deutlich gesunken. Wir haben immer noch keine neue Regierung seit den Parlamentswahlen im März. Es ist die längste Kabinettsbildung in der Geschichte. Im Allgemeinen ist die politische Lage rauer geworden. Der rechtspopulistische Politiker Thierry Baudet hat erst kürzlich gesagt, dass die Nichtgeimpften ‘die Juden dieser Zeit’ seien. Es geht einfach kaum schlimmer. Letzte Woche hat ein anderer rechtspopulistischer Politiker zu einem liberalen Abgeordneten gesagt, ihre Zeit käme noch, es werde Tribunale geben. Wenn solche Sachen schon im Parlament gesagt werden, dann ist das fast ein Aufruf zur Selbstjustiz.

Friso Wielenga, ehemaliger Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien.
Friso Wielenga, ehemaliger Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien. © Zentrum für Niederlande-Studien | Jürgen Peperhowe

Letztendlich ein Aufruf zur Gewalt vonseiten der Rechtspopulisten?

Genau. Die rufen natürlich nicht wortwörtlich zur Gewalt auf. Aber wenn man sagt, es werde Tribunale geben, dann sagt man auch: Der Rechtsstaat und die Politik funktionieren nicht – es müssten wie nach einer Revolution Tribunale gehalten und Menschen in der Politik verurteilt werden.

Diese Stimmung schlägt sich also direkt in der Bevölkerung nieder – oder bekommen die an den Krawallen beteiligten Jugendlichen diese Aufrufe gar nicht mit?

Man kann genauso wie im Januar nicht von einer gewaltbereiten, homogenen Gruppe sprechen. Viele Minderjährige wurden verhaftet. Sie sind unzufrieden und machen sich Sorgen um ihre Freiheiten, sind aber sonst schlecht informiert. Doch an den Krawallen war neben Jugendlichen eine breitere Gruppe beteiligt: Querdenker, Rechtsextreme und Hooligans. Auch die sozialen Medien haben wieder eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung und Verbreitung der Ausschreitungen in mehreren Städten gespielt.

Gibt es auch Unterschiede zu den Ausschreitungen während der Ausgangssperre im Januar?

Ich hatte den Eindruck, dass man jetzt eine stärkere Eskalation beobachtet. Man sieht, dass die Polizei in Rotterdam scharfe Geschosse eingesetzt hat. Was sicher mit eine Rolle gespielt hat: Wir haben in den Niederlanden einen Teillockdown. Dazu gehört auch, dass Fußballspiele ohne Publikum stattfinden. Das ist natürlich für Fußball-Hooligans ein gefundenes Fressen. Auch, dass die Regierung am Freitag entschieden hatte, dass es an Silvester kein privates Feuerwerk geben darf. Das hat den Protest sicher befeuert. Da haben die Randalierer direkt ihr Feuerwerk mitgenommen und verballert.

Ministerpräsident Mark Rutte hatte die Krawallmacher in einer Ansprache als ‘Idioten’ bezeichnet. Ist das aktuell hilfreich?

Das ist eine emotionale Reaktion, die wenig bringt. Wir sind in einer wahnsinnig polarisierten Situation. Auch wenn man natürlich denken darf: Das sind Idioten. Ich finde trotzdem, dass ein Ministerpräsident solche Sachen nicht sagen sollte. Denn er hat auch dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft nicht weiter auseinanderfällt.

Werden sich die Krawalle noch verschärfen? Es gibt weiteren Zündstoff: Die 2G-Regelung ist im Gespräch, und Premier Rutte hatte geradezu mit einem Lockdown gedroht, sollte sich die Corona-Lage nicht schnell genug verbessern.

Das ist natürlich schwierig vorherzusagen. Wenn man es mit Januar vergleicht: Es gab plötzlich eine Welle an Gewalt, die wieder abebbte. Es gab auch Proteste gegen die Ausschreitungen. Ich kann mir vorstellen, dass sich die Lage wieder beruhigt. Aber man muss schon feststellen: Wir sind in einer schwierigeren Situation. Nur 42 Prozent der niederländischen Bevölkerung unterstützt die Coronapolitik der Regierung. Die Gesellschaft in den Niederlanden ist gespaltener als in Deutschland. In den Niederlanden herrscht auch stärker die Einstellung vor: Ich entscheide als Individuum für mich selbst, jeder entscheidet für sich. Natürlich gibt es auch viele, die nicht so denken und verantwortungsvoll handeln, aber es gibt viel Potenzial für weitere Konflikte.