Am Niederrhein. Im Sommer 1816 regnete es außergewöhnlich lange – und niemand wusste wieso. Erst hundert Jahre später erkannten Meteorologen den Grund dafür.

Naturkatastrophen bringen in aller Regel viel Leid und Zerstörung mit sich. Der anhaltende Ausbruch des Vulkans auf La Palma vertrieb Tausende von Anwohnerinnen und Anwohnern aus ihren Häusern und vernichtet weiterhin einen großen Teil der landwirtschaftlich genutzten Flächen. Die Flutkatastrophe im Juli dieses Jahres an Ahr, Erft, Volme und Wupper zerstörte nicht nur ganze Ortschaften, sondern verursachte auch den Tod von 184 Menschen. Die Berichterstattung über diese Ereignisse übertrug das Ausmaß der Schäden in jedes Wohnzimmer.

Als es im Frühjahr und Sommer 1816 außergewöhnlich lange regnete – der hundertjährige Kalender vermerkte in den drei Sommermonaten „66 nasse Tage, keine Sommerwärme“ – war den Zeitgenossen nicht bewusst, woher die Ursache dieser Wetterveränderungen stammte. Erst hundert Jahre später fanden Meteorologen heraus, dass der Vulkan Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa im April 1815 ausgebrochen war und 150 Kubikkilometer Asche und Staub in die Atmosphäre geschleudert hatte. Die gigantische Aschewolke breitete sich wie ein Schleier über dem Globus aus und beeinträchtigte die Sonneneinstrahlung in der nördlichen Hemisphäre so sehr, dass die Temperaturen im Durchschnitt über zwei Grad sanken und es zu lang andauernden Schnee- und Regenfällen kam.

Wetterkapriolen am Niederrhein

Auch der Niederrhein bekam die Wetterkapriolen und ihre Auswirkungen deutlich zu spüren. Der Rheinpegel bei Düsseldorf stand 1816 im Durchschnitt bei 10 Fuß, im Juli sogar bei 15, während der Durchschnitt des Jahres 1814 bei 4,6 Fuß gelegen hatte! Die Niederschlagsmenge hatte sich 1816 gegenüber 1814 versechsfacht! Der anhaltende Regen führte von Düsseldorf bis Kleve zu Überschwemmungen und zu einer deutlichen Verschlechterung der Ernte. Der Ertrag lag bei etwa einem Drittel der üblichen Menge und durch die anhaltende Feuchtigkeit war die Qualität des Korns ebenfalls deutlich schlechter.

Mit diesem Berechtigungsschein aus Moers erhielt „der Bürger“ ein Brot.
Mit diesem Berechtigungsschein aus Moers erhielt „der Bürger“ ein Brot. © Stadtarchiv Moers

Die Folge war eine Hungersnot, die bereits im Herbst 1816 einsetzte. Eine erste Verteilung von Vorräten aus dem Magazin der Garnison in Wesel linderte den Mangel nur kurzfristig. Denn im Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Kleve vom 16. Oktober 1816 hieß es: „Die entstandene Noth ist unbeschreiblich. Züge der Verzweiflung offenbaren sich auf den Gesichtern, weil sie der größten Hungersnoth preisgegeben sind, wenn keine Anstalten zu ihrer Rettung getroffen werden“. Der preußische König ließ verkünden, er habe zum Ankauf von Roggen „die Summe von 2 Millionen Thalern auf Meine Cassen angewiesen. Von diesem Getraide bestimme Ich einen Beträchtlichen Theil für die Rheinprovinzen“. Die Lieferung traf aber erst im Mai 1817 ein. Bis dahin kletterten die Preise so sehr, dass der Landrat von Dinslaken, „die Laster des Diebstahls befürchtete, wenn nicht Hülfe gewährt würde“. Und im März 1817 beklagte er, dass „manche Familien mehrere Tage ohne Brodt in stiller Wehmuth verseufzen.“

Regierung in Kleve: Hilfe zur Selbsthilfe

Um nicht nur auf staatliche Hilfe angewiesen zu sein, gründete die Regierung in Kleve einen sogenannten „Central-Hülfsverein“ auf Bezirksebene und appellierte an die Kreise und Gemeinden, ähnliche Hilfsvereine für ihre Bereiche einzurichten. Diese sollten Spenden sammeln, aber auch die Verteilung der gespendeten Nahrungsmittel vor Ort organisieren bzw. Geldspenden für den Ankauf von Lebensmittel verwenden. In den allermeisten Orten wurden entsprechende Hilfsvereine gegründet, in denen die lokalen Amtsträger und Honoratioren die Vorstände bildeten.

Viele Empfängerinnen und Empfänger aus Moers quittierten den Erhalt des Roggens statt mit einer Unterschrift mit drei Kreuzen quittierten.  
Viele Empfängerinnen und Empfänger aus Moers quittierten den Erhalt des Roggens statt mit einer Unterschrift mit drei Kreuzen quittierten.   © Stadtarchiv MOers

So ließ der Bürgermeister von Moers Berechtigungskarten drucken, mit denen die Bedürftigen bei bestimmten Bäckern ihr Brot holen konnten. Die Vereine waren mit ihren Hilfsaktionen insgesamt recht erfolgreich, denn in den Amtsblättern wurde immer wieder festgehalten, welche Spenden – entweder in Geld oder in Naturalien – zusammengetragen und wie sie verteilt wurden. So konnten die Noth-Vereine in Budberg und Orsoy 532 bzw. 977 Reichsthaler aufgrund eigener Sammlung zur Verfügung stellen, während an staatlichen Geldern nur 422 bzw. 732 Thaler im Ort ankamen. Auch Moers hatte mit 763 gegenüber 734 Thalern mehr milde Gaben als öffentliche Hilfsgelder eingesetzt.

Mit der Ernte 1817 war die Hungersnot überwunden und die Preise sanken wieder. Dennoch blieben die Noth- und Hülfs-Vereine weiter bestehen. Sie bildeten die Grundlage für die Entwicklung des Vereinswesens im 19. Jahrhundert. Immer neue Vereine entstanden, die sich mildtätig-karitativen, erzieherischen und emanzipatorischen Zwecken widmeten. Sie sind die Vorläufer der heutigen Organisationen und Parteien, die sich auf vielfältige Art in der Zivilgesellschaft engagieren. Und letztendlich sind sie auch die Vorgänger der selbstorganisierten Hilfsbündnisse in der Flutkatastrophe wie #solidAHRität oder www.helfer-shuttle.de