An Rhein und Ruhr. Nach dem Hochwasser im Sommer haben die Feuerwehren in NRW ein Strategiepapier erstellt. VdF-Landesgeschäftsführer Schöneborn erklärt die Ziele.

Nach dem Jahrhunderthochwasser im Juli fordert der Verband der Feuerwehren in NRW (VdF) systematische Anpassungen beim Katastrophenschutz. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren (AGBF NRW) und der Arbeitsgemeinschaft der Leiter hauptamtlicher Feuerwehren (AGHF NRW) hat der VdF ein 20-seitiges Strategiepapier erarbeitet. Redakteur Dennis Freikamp hat mit dem VdF-Landesgeschäftsführer Christoph Schöneborn über Schwierigkeiten während der Flutkatastrophe, neue Warnsysteme und die nötige Registrierung von Spontanhelfern gesprochen.

Sie fordern eine „Kompetenz-Zentrale“ des Landes. Welche Aufgabe soll sie übernehmen?

Wir erhoffen uns insbesondere, dass Informationen, die von anderen Fachbehörden kommen, aufbereitet und gebündelt an die unteren Einsatzleitungen weitergegeben werden. Es gab vor der Flut im Sommer zum Beispiel durchaus Hinweise, dass innerhalb von 24 Stunden bis zu 200 Liter Regen pro Quadratmeter fallen würden. Diese Zahl allein sagt den Einsatzleitungen erstmal nichts. Es gibt aber Experten, zum Beispiel beim Lanuv, die können diesen Wert interpretieren und warnen, dass bei einer solchen Niederschlagsmenge viele kleine Flüsse über die Ufer treten werden. Diese konkrete Information wäre sehr wichtig gewesen.

Was muss sich auf Landesebene noch verändern?

Auch interessant

NRW ist beim Thema Katastrophenschutz sehr stark auf Föderalismus ausgerichtet. Zuständig sind in erster Linie die Kreise und kreisfreien Städte. Dieser Föderalismus geht an manchen Stellen zu weit. Das Land muss in seinen Möglichkeiten rechtlich gestärkt werden. Je nach Lage macht es Sinn, einen landesweiten Katastrophenfall auszurufen. Das bayerische Katastrophenschutzgesetz sieht eine solche Option vor, das nordrhein-westfälische nicht. Das würden wir uns aber wünschen, damit das Land seine Koordinierungsaufgaben erfüllen kann.

NRW plant die Umsetzung einer neuen Schnittstelle (VIDaL), um den digitalen Austausch zwischen den Krisenstäben zu vereinfachen. Ein wichtiger Schritt?

VIDaL ist hilfreich, aber auch nur die zweitbeste Lösung. Die Schnittstelle soll nicht nur die Krisenstäbe in den einzelnen Kommunen, sondern auch die Bezirksregierungen und das Land miteinander vernetzen. Die Verantwortlichen sollen digital sehen können, wie viele Einsätze es beispielsweise im Nachbarkreis gibt, wie viele Kommunen betroffen sind und in welche Richtung ein Unwetter zieht, ohne zum Hörer greifen oder eine E-Mail schreiben zu müssen.

Wo ist der Haken?

Christoph Schöneborn, Landesgeschäftsführer des Verbandes der Feuerwehren in NRW (VdF). 
Christoph Schöneborn, Landesgeschäftsführer des Verbandes der Feuerwehren in NRW (VdF).  © VdF NRW | VdF NRW

Es gibt im Moment verschiedene Software-Lösungen. Jede Kommune hat ihre eigene. Wenn es eine landesweit einheitliche Software gäbe, hätten wir viele Vorteile. Alle Kommunen hätten dieselbe Informationsbasis. Wir könnten viel umfangreicher auf Daten der anderen zugreifen. Außerdem könnte im Krankheitsfall ein Leitstellenbeamter einer Nachbarkommune einspringen. Aktuell kommt es zu Personalengpässen, weil Leitstellenbeamte nur dort einspringen können, wo die Kommune die gleiche Software verwendet. Wir brauchen die bestmögliche Vernetzung. Das ist nicht VIDaL. Aber um eine einheitliche Software verpflichtend einzuführen, müsste der Landtag erst das Gesetz ändern.

Welche Erfahrungen haben Sie bei der Flut im Juli gemacht?

Wir haben gesehen, dass wir kein landeseinheitliches Lagebild hatten. Die Landesregierung konnte mit dem bisherigen System dieses einheitliche Lagebild auch gar nicht bekommen, weil sie die Informationen aus den betroffenen Gebieten erstmal aufwendig anfragen musste. Das bräuchte das Land nicht, wenn wir eine einheitliche Software hätten.

Auch bei der Ausstattung der Einsatzkräfte sehen Sie Handlungsbedarf. Warum?

Wir brauchen zum Beispiel mehr watfähige Fahrzeuge. Wenn bestimmte Straßenabschnitte nach einer Flut immer noch überschwemmt sind, müssen die Einsatzkräfte die Straße trotzdem überqueren können. Darüber hinaus konnten wir in einigen Orten, wo die Digitalfunk-Basisstationen ausgefallen sind, überhaupt nicht mehr funken. Deshalb brauchen wir eine höhere Anzahl mobiler Ersatz-Basisstationen, damit wir in diesen Gebieten weiterhin kommunizieren können.

Wie lief die Kommunikation in den Katastrophengebieten ohne Funkverkehr ab?

Auch interessant

Es gab Gebiete, die waren für die Leitstellen über mehrere Tage nicht erreichbar. Es mussten Leute teilweise mit Hubschraubern in einzelne Dörfer geflogen werden, weil zeitgleich auch der Strom ausgefallen war und es kein Handy- oder Festnetz gab. In der heftigsten Flutnacht konnten Leitstellen in manchen Orten überhaupt kein Lagebild bekommen. Die konnten noch nicht mal Hilfe anfordern, wenn sie Unterstützung aus anderen Dörfern brauchten. Das waren abgeschnittene Inseln. Und das im Jahr 2021.

In den Flutgebieten haben zahlreiche Bürger mit angepackt. Wie lief die Koordination?

Es gab Gebiete, wo die Spontanhelfer durchaus koordiniert wurden und beispielsweise beim Befüllen der Sandsäcke geholfen haben. Wichtig ist aber, dass diese Leute koordiniert werden. Wenn alle einzeln herumlaufen und sich eine Aufgabe suchen, verstopfen deren Pkw die Zugangsstraßen zu den Orten. Das Problem hatten wir in manchen Orten, dass einige Freiwillige, obwohl sie nur ihre Hilfe anbieten wollten, häufig im Weg standen. Da braucht es abseits der Flutgebiete Parkmöglichkeiten, wo die Leute ihre Fahrzeuge abstellen können.

Wieso ist eine Registrierung der Spontanhelfer so wichtig?

Wenn die Leute von den Verwaltungen registriert werden, sind sie rein rechtlich Verwaltungshelfer. Dann haben Sie auch einen Unfallversicherungsschutz, falls sie sich während ihres Einsatzes verletzen. Dabei geht es unter anderem auch um Haftungsfragen. Auf diese koordinierte Einbindung der Spontanhelfer waren während der Flut nur wenige Behörden eingestellt. Das ist eine große Herausforderung der Zukunft. Die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ist vorhanden, aber die Helfer müssen von den Experten vor Ort geschützt und koordiniert werden, damit die Hilfe da ankommt, wo sie am dringendsten benötigt wird.

Sie wollen die „Stärkung der Selbsthilfefähigkeit“ der Bürger verbessern. Was meinen Sie damit?

Viele Menschen haben die Warnungen im Sommer gar nicht ernst genommen – da sehen wir erheblichen Nachholbedarf. Das ist ein vielschichtiges Problem. Die Gesellschaft wird immer bunter, deshalb müssen wir, um alle Menschen zu erreichen, den „Warnmix“ bunter gestalten. Es gibt zum Beispiel bereits Forschungsprojekte, um Warnhinweise zukünftig über Navigationsgeräte direkt in die Fahrzeuge verbreiten zu können. Wir müssen besser darin werden, alle Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Sirenen sind dabei nur einer von mehreren Bestandteilen.

Was spricht gegen die klassischen Sirenen-Warntöne?

Auch interessant

Die meisten Menschen nehmen unterschiedliche Warntöne nicht wahr. Es ist völlig utopisch, anzunehmen, dass sie zwischen verschiedenen Tönen unterscheiden können. Außerdem wissen viele nicht, wie sie im Falle einer Warnung reagieren müssen. Deshalb brauchen wir neben Sirenen auch klare Handlungsanweisungen über Sprachansagen oder Handy-Nachrichten. Wir erhoffen uns zum Beispiel die Einführung des sogenannten „Cell-Broadcast“: So könnten wir Bürger direkt über ihr Handy informieren. Dieser Dienst müsste mehrsprachig sein, nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Türkisch oder Arabisch.

Damit Bürger besser vorbereitet sind, wollen Sie Informationskurse in Schulen anbieten.

Das ist ein Bestandteil, richtig. Eine Aufgabe ist es, die Betroffenen über ihre Handys oder Warnsignale zu erreichen. Die Menschen müssen aber auch das Verhalten in Katastrophenlagen lernen. Mit Kursen im Schulunterricht könnten wir sowohl die nachwachsende Generation als auch die Eltern erreichen. Das ist einer von mehreren Punkten, um die Bevölkerung in ihrer ganzen Breite zu erreichen.

Welchen Nachholbedarf sehen Sie bei der Vorbereitung der Einsatzkräfte auf Katastrophenlagen?

Wir können den Ernstfall nicht alle zwei Monate üben. Wenn jede Gebietskörperschaft aber einmal im Jahr eine Katastrophenschutzübung machen würde, wären wir schon sehr viel weiter. Es gibt manche Kreisverwaltungen, die inhaltlich sehr gut aufgestellt sind, was den Katastrophenschutz angeht. Es gibt aber auch welche, die für den gesamten Katastrophenschutz nur einen Sachbearbeiter haben. Das ist nicht leistbar. Diese Verwaltungen müssen dringend personell aufrüsten.

Darüber hinaus fordern Sie eine landesweit einheitliche Pressearbeit der Feuerwehren. Warum?

Wir haben folgendes Problem: Während der Lage im Sommer waren 25.000 Einsatzkräfte in NRW aktiv – davon über 20.000 von den Feuerwehren. Im Vergleich zur Bundeswehr oder dem Technischen Hilfswerk kamen wir in der medialen Wahrnehmung aber viel weniger vor. Das liegt daran, dass es keine Landesfeuerwehr gibt. Jeder kommunale Träger macht seine eigene Pressearbeit. Da bedarf es einer deutlich zentraleren Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

Wie fällt ihr Fazit der Flutkatastrophe aus?

Bei all dem, was wir an Verbesserungspotenzial identifiziert haben, muss man sagen, dass nicht alles nur schlecht gelaufen ist. So eine Lage hatte keiner von uns vor Augen und es gab auch keine Erfahrungswerte. Selbst Einsatzkräfte, die jahrzehntelange Erfahrung haben, hatten sowas zuvor nicht erlebt. Aber jetzt haben wir eine andere Situation. Wenn sich eine solche Lage wiederholt, werden wir nicht mehr sagen können, dass wir nicht vorbereitet waren. Es ist ein eindeutiger Handlungsbedarf erkennbar geworden. Deshalb regen wir diese Vorschläge an und hoffen, dass sie möglichst zeitnah diskutiert und umgesetzt werden.