An Rhein und Ruhr. „Der Wahlzeitpunkt rückt deutlich nach vorne“, sagt Politikwissenschaftlerin Borucki und ordnet diesen Trend für die Bundestagswahl ein.

Zuhause einen Tee aufgießen, das Kreuzchen setzen und entspannt die Koffer für den Spanienurlaub packen: Das gilt für das Bundesverfassungsgericht eigentlich als Ausnahme bei der Bundestagswahl. Doch die Briefwahl als Alternative zur Urnenwahl erlebt, gerade im Pandemiejahr, einen rasanten Anstieg. Die Prognose des Bundeswahlleiters: Rekordwerte bei der Anzahl der Briefwahlstimmen. „Der Wahlzeitpunkt rückt dadurch deutlich nach vorne. Was dann noch an Anstrengungen seitens der Politik geschieht, kann nicht mehr so viel beeinflussen“, sagt Politikwissenschaftlerin Isabelle Borucki von der Universität Duisburg-Essen. Allein in Düsseldorf habe sich die Anzahl der Briefwahlanträge im Vergleich zu 2017 schon jetzt verdoppelt.

Dabei nehme sich die Wählerschaft laut Borucki nicht zuletzt selbst die Zeit, ihre Entscheidung sorgfältig zu treffen. „In den letzten zwei Wochen sind viele unvorhersehbare Dinge passiert, die auch innenpolitisch auf die Wahl einschlagen können“, erinnert sich die Wissenschaftlerin. Die Afghanistan- Evakuierung und die Auswirkungen der Überschwemmung seien die markantesten Beispiele.

„Kandidaten haben so auch weniger Zeit, Fehler zu machen“

Für die Parteien sei die Entwicklung der Briefwahl oft sogar wünschenswert. Einige machen auf ihren Wahlplakaten auf die Briefwahl aufmerksam. Auch wenn das bedeuten kann, dass sie weniger Zeit haben, ihre Wählerschaft zu überzeugen. „Die Kandidaten haben so auch weniger Zeit, Fehler zu machen und diese angekreidet zu bekommen“, so Borucki.

 Dr. Isabelle Borucki ist Politikwissenschaftlerin in Duisburg.
 Dr. Isabelle Borucki ist Politikwissenschaftlerin in Duisburg. © bea roth photography

Die Parteien setzen laut der Politikwissenschaftlerin damit auf ihr sicheres Wählermilieu: „Die Stammwählerschaft der Grünen oder der SPD ist die mobile, gutgebildete Mittelschicht. Diese Menschen möchten die Parteien für die Wahl mobilisieren.“ Und das mit dem Hinweis auf die bequeme und einfache Alternative zur Urnenwahl.

Expertin: Wahlbeteiligung wird durch Entwicklung nicht steigen

Laut einer Statistik der Uni Hohenheim und forsa planen jeweils über 40 Prozent der SPD-, CDU-, Grünen- und FDP - Unterstützenden die Briefwahl zu nutzen – etwa 20 Prozent haben sich noch nicht entschieden, wie sie wählen möchten. Dagegen plant nur 33 Prozent der Linken- und 24 Prozent der AfD-Wählerschaft eine Briefwahl. Rund 40 Prozent aller Befragten möchten dieses Jahr ihre Stimme per Briefwahl abgeben.

„Die Briefwahl bietet auch die Möglichkeit, beim Wählen zu recherchieren und mir Zeit mit der direkten Entscheidung zu lassen“, so Borucki. Außerdem werden so auch die Stimmen derer erfasst, die während der Wahl auf Reisen oder anders verhindert sind. Dass durch diese Entwicklung die Wahlbeteiligung steigt, glaubt die Wissenschaftlerin allerdings nicht. „Nichtwähler kommen hauptsächlich aus Milieus mit geringem Einkommen, die Etablierung der Briefwahl ändert nichts an ihrer Motivation, wählen zu gehen.“

Briefwahlquote steigt seit 2005

Die Entwicklung hin zur Briefwahl sei schon seit den frühen 2000ern zu beobachten und damit keine neue. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung lag die Quote 2005 bei etwa 19 Prozent, 2013 schon bei 24 Prozent. Bei der letzten Bundestagswahl 2017 wählten knapp 29 Prozent per Briefwahl.

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In Duisburg haben bereits 70.000 Personen die Briefwahl beantragt, das sind etwa 15.000 mehr als 2017. In Moers wurden knapp 18.000 Anträge gestellt, 2017 gaben 14.000 ihre Stimme per Briefwahl ab. „Solche kollektiven Rituale wie Urnenwahlen oder auch Kirchengänge gehen allgemein stark zurück. Der allgemeine Lebensstil verändert sich“, sagt die Wissenschaftlerin.

Für Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, bietet die Briefwahl eine gute Möglichkeit, ihre Stimme zu vertreten. Auch Borucki selbst wählt seit vielen Jahren per Briefwahl. Trotzdem macht die Wissenschaftlerin nochmal darauf aufmerksam: „Man muss auch seine Briefwahl-Stimme nicht sofort abgeben.“ Einige Tage vor dem Wahlsonntag, reiche auch aus.

So viele Briefwahlanträge liegen den Kommunen vor

Die Nachfrage nach der Briefwahl ist in den Kommunen so hoch wie noch nie und sorgt für viel Aufwand bei den Städten und Gemeinden. Schon jetzt haben alle Kommunen den Stand aller Briefwahlanträge der vergangenen Bundestagswahl 2017 überschritten. Einige Beispiele zeigen die Entwicklung seit der Wahl vor vier Jahren:

  • Duisburg: 70.000 (2017: 68.000)
  • Moers: 18.461 (2017: 13.976)
  • Neukirchen-Vluyn: 5157 (2017: 4413)
  • Kamp-Lintfort: 5650 (2017: 4515)
  • Düsseldorf: 129.824 (2017: 64.750)
  • Dinslaken: 16.940 (2017: 10.968)
  • Voerde: 8228 (2017: 6113)
  • Hünxe: 4066 (2017: 3113)
  • Wesel: 13.000 (2020: 11.000)