Dinslaken/Kabul. Das Friedensdorf International hat unter dem ersten Regime der Taliban gearbeitet. Auch jetzt wollen die Helfer aus Oberhausen im Land bleiben.

Irgendwo in den Archiven des Friedensdorfs International in Oberhausen verstaubt ein Dokument, eine Arbeitsgenehmigung, unterzeichnet von Mullah Mohammed Omar, dem 2013 verstorbenen Gründer und Führer der Taliban, der zwischen 1996 und 2001 das Staatsoberhaupt des Islamischen Emirats Afghanistan war. Ein Vierteljahrhundert nach der ersten Eroberung Kabuls durch die Islamisten haben sie jetzt wieder die Macht übernommen, und erneut stehen die humanitären Helfer des Friedensdorfes vor der Frage, ob und wie sie in Afghanistan unter den neuen Bedingungen weiterarbeiten können.

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Rückblick: Am Dienstag vor zwei Wochen treffen die beiden Friedensdorf-Mitarbeiterinnen Birgit Hellmuth und Claudia Peppmüller am Flughafen von Kabul ein. Es ist der 84. Afghanistan-Hilfseinsatz der Organisation, und wie bei allen Einsätzen geht es darum, verletzte und kranke Kinder zur Behandlung nach Deutschland zu holen. Bei den sogenannten Vorflügen suchen die Mitarbeiter die Kinder aus, die eine Chance haben, in Krankenhäusern im Ruhrgebiet, in Berlin, Hamburg oder in Süddeutschland behandelt zu werden. Üblicherweise werden ihnen dabei etwa 600 Kinder vorgestellt, rund 100 werden zwei Wochen später nach Deutschland ausgeflogen. Diesmal kommt alles anders.

Als Hellmuth und Peppmüller in Afghanistan ankommen, toben in vielen Teilen des Landes erbitterte Kämpfe. Vier Provinzhauptstädte sind bereits an die Taliban gefallen, darunter Kunduz, wo die Bundeswehr zwölf Jahre ein Feldlager unterhielt. In Kabul ist die Lage noch ruhig. Der Verkehr staut sich wie üblich, die Geschäfte sind geöffnet. Die große Zahl von Flüchtlingen in den Parks und auf den Straßen zeigt aber, dass sich die Lage im Land zuspitzt.

Wie problematisch die Situation ist, wird den deutschen Helferinnen auch bei der Vorstellung der Kinder in den Büros des Friedensdorfes auf dem Gelände des Afghanischen Roten Halbmondes im Osten der Stadt schnell klar. Es kommen viel weniger Eltern und Kinder als üblich. „Sie haben Probleme aus den Provinzen nach Kabul zu kommen, weil an so vielen Stellen gekämpft wird“, erklärt Doktor Marouf.

Begegnungen mit den Taliban

Der kleine energische Mann mit dem beeindruckenden grauen Bart, der ihm bis über die Brust reicht, ist seit den Anfängen der Afghanistan-Einsätze dabei, er koordiniert die Arbeit vor Ort. An dem Dienstag, an dem die Deutschen ankommen, ist er die Ruhe selbst. Ja, natürlich seien die Taliban auf dem Vormarsch, aber die Provinzen, die ihnen jetzt in die Hände fielen, seien wirtschaftlich und strategisch unbedeutend, andere Provinzen wie Herat, Nangarhar, Kandahar oder Balch seien wichtiger und würden sicherlich nicht so schnell fallen. Er irrt sich gewaltig.

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Die Eltern der Kinder, die es aus weit entfernten Provinzen wie Herat im Osten oder Kunduz und Balch im Norden nach Kabul geschafft haben, erzählen von den Begegnungen mit den Taliban, wie ihre Busse gestoppt und kontrolliert wurden, wie sie wegen der Kämpfe große Umwege fahren mussten, dass sie Tote am Wegesrand gesehen haben. Sie erzählen aber auch, dass die Taliban ihnen kein Haar gekrümmt und sie durchgelassen hätten. Es sind wichtige Informationen für die humanitären Helfer, sie sind Indizien dafür, wie es in der Zukunft weitergehen kann.

Das Friedensdorf arbeitet seit 1988 in Afghanistan. Durchgehend, auch während der Zeiten, als Kabul bei den Kämpfen zwischen den verschiedenen Fraktionen der von den Amerikanern hochgerüsteten Mudschaheddin in Schutt und Asche gebombt wurde, auch dann, als die Taliban die Stadt 1996 eroberten und auch dann, als sie das Land fünf Jahre lang in eine mittelalterliche Klerikal-Diktatur verwandelten. „Es ging uns immer nur um die Kinder“, sagt Claudia Peppmüller.

Birgit Hellmuth war damals dabei. Im Gästehaus des Roten Halbmondes, gelegen inmitten einer weitläufigen, begrünten Anlage mit vielen Blumen und Bäumen, erzählt sie von den neunziger Jahren, als sie mit dem langjährigen Friedensdorf-Leiter Ronald Gegenfurthner in Kabul war. „Einmal saßen wir im Flughafen, die Decke bricht ein, bewaffnete Mudschaheddin fallen herunter und liefern sich auf dem Vorfeld eine Schießerei. Ein Kellner fragt uns, ob wir noch einen Kaffee haben wollen.“

Grünes Licht von der Taliban-Führung

Als die Taliban schließlich die Macht eroberten, gab die Kandahar-Schura, das Führungsgremium der Islamisten, nach langen Verhandlungen im Frühjahr 1997 grünes Licht für die weitere Arbeit des Friedensdorfes. Auch aus eigenem Interesse. Auch Taliban haben kranke Kinder.

In den Augusttagen ein Vierteljahrhundert später rückt der Krieg in einem wahnwitzigen Tempo auf Kabul zu. Am Sonntag zeigt Doktor Marouf auf seinem Telefon Bilder von Taliban-Kämpfern im Zoo der Stadt. Er und alle anderen afghanischen Freunde sind verblüfft, wie schnell den Islamisten die Macht in den Schoß gefallen ist. „Ich werde hierbleiben“, sagt er trotzig, „es ist mein Land“. Er ist sicher, dass ihm nichts geschehen wird. Auf der Fahrt durch die Stadt grüßen ihn junge Taliban später ehrfurchtsvoll, zudem gehört er wie die allermeisten Taliban der Volksgruppe der Paschtunen an.

Nach bangen Tagen des Wartens werden Peppmüller und Hellmuth schließlich am Dienstag vergangener Woche mit einer Maschine der Bundeswehr ausgeflogen, die afghanischen Freunde sind die ganze Zeit über mit ihnen, beruhigen sie, organisieren weiterhin die mögliche Ausreise der Kinder. 27 sind es diesmal. Nur 27.

In der Heimat angekommen, beginnen hektische Beratungen im Friedensdorf. Kann die geplante Charter-Maschine tatsächlich am 31. August herausgehen, um die Kinder nach Deutschland zu holen? Wie geht es überhaupt weiter mit der Arbeit des Friedensdorfes? Nach einigen Tagen steht der Entschluss fest. Der Flug wird wegen der unsicheren Lage am Kabuler Flughafen abgesagt und auf unbestimmte Zeit verschoben. „Es bricht uns das Herz, dass die kranken und verletzten Kinder warten müssen“, sagt Leiterin Birgit Stifter. Sie sagt aber auch: „Wir werden aber ganz sicher unser Versprechen halten und alles daransetzen, ihnen so bald wie möglich helfen zu können.“ Auch unter der zweiten Herrschaft der Taliban soll die Arbeit weitergehen.