An Rhein und Ruhr. Corona hat die Lage in den Krankenhäusern weiter verschärft. Experten warnen: Ohne schnelle Hilfe könnten hunderte Pfleger die Reißleine ziehen.

Schlechte Bezahlung, Personalmangel und unbezahlte Überstunden - seit Jahren kritisieren Kranken- und Altenpfleger in NRW die stetig wachsende Arbeitsbelastung. Die Pandemie hat die Lage zusätzlich verschärft. Zwar ist die von einigen Experten befürchtete Kündigungswelle bislang ausgeblieben - Verbände in NRW warnen aber schon jetzt vor drohenden Versorgungsengpässen.

NRW-Pflegeheime in der Pandemie- Sie singen wiederEs sind Zahlen, die aufhorchen lassen: 72,2 Prozent der Pfleger und Sanitäter in der Intensiv- und Notfallmedizin fühlten sich während der dritten Corona-Welle überlastet. Satte 95,9 Prozent glauben nicht daran, dass die Politik den Personalmangel in den Krankenhäusern lösen kann. Und jeder dritte Mitarbeiter (30,5 Prozent) spielt mit dem Gedanken, seinen Beruf zu wechseln. Prof. Dr. Uwe Janssens, der die Online-Befragung der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) im April 2021 durchgeführt hat, zeigt sich wenig überrascht: „Die Stimmung der Pflegenden ist desaströs. Die Leute sind ausgebrannt und müde“, kritisiert der Experte.

Wenn rund 30 Prozent der Befragten intuitiv antworten, dass sie unter den derzeitigen Bedingungen nicht mehr weiterarbeiten wollen, heiße das nicht, dass auch 30 Prozent nach der Pandemie den Job wechseln. „Aber selbst, wenn nur zehn Prozent der Mitarbeiter die Reißleine ziehen, wäre das immer noch viel zu viel“, so Janssens. Auch Hilmar Riemenschneider, Sprecher der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (KGNW), zeigt sich besorgt: „Natürlich ist dieses Stimmungsbild beunruhigend. Die Pandemie hat alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Krankenhäuser in eine bis dahin ungekannte Ausnahmesituation geführt.“

KGNW-Sprecher: Personallücke in der Pflege „nur schwer zu schließen“

Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit zeigt die Notlage vieler Krankenhäuser: Auf 5472 Stellenangebote für Fachkräfte in den Pflegeberufen kamen im April 2021 in NRW nur 2740 Bewerber. Die Personallücke sei laut Riemenschneider „nur schwer zu schließen“. Obwohl nach Angaben des KGNW-Sprechers die Zahl der Ausbildungsplätze zwischen 2009 und 2019 kontinuierlich gestiegen ist, bleibt die Situation angespannt. Die Altenpflege verzeichnete in NRW im September 2020 sogar 558 Auszubildende weniger als im Vorjahr.

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Trotzdem genieße die Pflege „bis heute eine hohe Attraktivität“, betont Riemenschneider. Es sei aber durchaus verständlich, dass manche Beschäftigte aktuell kritisch auf ihren Beruf blicken. Dass die Kündigungswelle während der Pandemie ausgeblieben ist, sei wohl auf das „Pflichtgefühl“ der Pflegenden und das „hohe Engagement für die Pflege“ zurückzuführen. Er hoffe, dass die zweifelnden Pflegekräfte „mit etwas Abstand und mit Beginn einer Entlastung nach der Pandemie im Beruf verbleiben“. Dafür müsse aber auch über faire, kompetenzbezogene Gehälter diskutiert werden.

Auch Katharina von Croy, Sprecherin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe Nordwest, hält eine Kündigungswelle nach Corona für denkbar: „Sofern diese Pandemie je an einen wirklichen Endpunkt kommt, könnten in der Tat viele Pflegende ihre Ankündigungen beziehungsweise Überlegungen wahr machen.“ Grund sei die zunehmende Arbeitsbelastung, die Traumatisierung auf den Corona-Intensivstationen, die fehlende Wertschätzung und der Frust über die Politik, „weil den hehren Worten vor einem Jahr keine spürbaren Taten folgten“, so von Croy.

Willkür bei Corona-Bonus: „Das hat die Pflegenden unglaublich geärgert“

Zustimmung erhält die Sprecherin von Janssens: „Dass die Politik in NRW in den vergangenen zwölf Monaten konkret etwas zur Verbesserung der Pflege umgesetzt hat, ist mir nicht bekannt.“ Der Corona-Pflegebonus sei eine „unsägliche Geschichte“ gewesen. „Einige Krankenpflegerinnen sind komplett leer ausgegangen. Das hat die Pflegenden unglaublich geärgert.“ Auch von Croy bemängelt die „willkürliche Verteilung“ der Corona-Gelder. Das habe die Gemüter der Kranken- und Altenpfleger zusätzlich erhitzt. „Es kommt einfach nichts von den versprochenen Verbesserungen in der Praxis an.“

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Doch nicht nur über höhere Gehälter müsse laut von Croy endlich diskutiert werden, sondern auch über Dienstplansicherheit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und flexiblere Arbeitszeiten. Solange sich daran nichts ändert, werde der Personalmangel weiter zunehmen. „Der Pflegeberuf ist und bleibt ein Mangelberuf.“ Stellenausschreibungen zum Beispiel in der Altenpflege würden zu jenen gehören, die am längsten unbesetzt bleiben. „Bei der Pflege wurden Themen wie Work-Life-Balance nie ausreichend berücksichtigt“, so Janssens. „Arbeitsmodelle, Wiedereingliederung nach der Schwangerschaft – das sind alles Aufgaben, die völlig verschlafen wurden.“

Ein weiteres Problem sei die „Dokumentationsflut“ in den Krankenhäusern. „Wir haben uns totdokumentiert“, kritisiert der Experte. „Das ist ein irrer Aufwand.“ Hinzu komme die nur schleppend voranschreitende Digitalisierung. „Da hängt Deutschland weit zurück“, sagt Janssens. Der Chefarzt am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler fordert ein Umdenken: „Wir müssen das Gesundheitssystem zwingend revolutionieren. Das ist ein riesiges Projekt, an das sich keiner so richtig traut – aber es muss passieren“, so Janssens. „Ohne Gesamtkonzept rauschen wir als Gesellschaft in eine komplette Unterversorgung.“

>>> Zahl der Beschäftigten in der Pflege steigt

Laut aktuellster Daten der NRW-Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit vom September 2020 stieg die Zahl der Kranken- und Altenpfleger im vergangenen Jahr um etwa 2,7 Prozent an. Vor allem unter Frauen ist Teilzeit weit verbreitet: Nur etwa jede zweite Kranken- und Altenpflegerin in NRW arbeitete 2020 in Vollzeit. Bei den männlichen Angestellten haben über 80 Prozent eine volle Stelle.