Am Niederrhein. Der größte Erfolg des MSV Duisburg ist 56 Jahre her: Vizemeister der Fußball-Bundesliga mit Trainer Rudi Gutendorf und Weltmeister Helmut Rahn.
Kurz vor seinem 90. Geburtstag, das war Ende August 2016, sprach Rudi Gutendorf dem MSV Duisburg sein vermutlich größtes Kompliment aus: „Ohne die Zebras wäre meine Karriere nicht so erfolgreich verlaufen – sportlich wie auch finanziell.“ Rudi Gutendorf saß da ganz entspannt in weißem T-Shirt, roter Shorts und mit seinem markanten Lächeln bei einer Tasse Kaffee in seinem Gartenstuhl. Mit Blick in den Westerwald bei Neustadt/Wied und auf das umgebaute Telegrafen-Häuschen, sein im Grünen verstecktes Rückzugsdomizil. In Gutendorfs persönlichem Fußballmuseum im Kellergeschoss finden sich auch Bilder aus der Zeit, als die Duisburger noch als Stadtteilklub Meidericher SV firmierten. Unter Gutendorf wurde der Abstiegskandidat in der ersten Bundesliga-Saison 1963/64 Vizemeister. Eine Sensation.
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Mit dabei war der trinkfeste 54er-Weltmeister Helmut Rahn, der ungern an den Kneipen zwischen Meiderich und Essen tatenlos vorbeiging. Dazu gesellte sich eine brandneue 4-2-4-Spieltaktik, die die Gegner entnervte. Jungtalent Werner „Eia“ Krämer stürmte vornweg. 26.000 Zuschauern im Schnitt waren im modernisierten Wedaustadion dabei, in dem im November 1963 gegen Borussia Dortmund die neue Haupttribüne eröffnet wurde.
MSV: Vertrag mit Prämien auf der Speisekarte
„Wir haben mit Außenverteidigern gestürmt und mit Angreifern verteidigt. Gegen meinen damals modernen Riegel ist den anderen mit ihrem WM-System nicht viel eingefallen“, erklärte Gutendorf mit 90 noch stolz. Dass er in jener Saison alle drei Partien ausgerechnet gegen den Tabellendrittletzten Hertha BSC verloren hatte – zweimal Bundesliga, einmal Pokal – fällt in der Wertung gnädig unter den Tisch.
Der junge Trainer, damals 35, hatte seine Taktik beim FC Luzern in der Schweiz entwickelt. Dann beim tunesischen Erstligisten US Monastir. Danach beim Oberligisten TSV Marl-Hüls. Überzeugend handelte Gutendorf beim MSV gegen 36 Mitbewerber seinen ersten Profivertrag aus: 2500 Mark Honorar im Monat, dazu eine Nicht-Abstiegsprämie (7000 Mark), eine Meisterprämie (100.000 Mark) und einen Bonus für Platz zwei (30.000 Mark).
Grundstock in Meiderich gelegt
Der Vorstand mit Dr. Walter Schmidt an der Spitze war zunächst höchst amüsiert. Ob der Jungspund ein wenig übergeschnappt sei und zur Meidericher Malocher-Mentalität überhaupt passe? Gutendorf passte tatsächlich. Die monetären Vertragsdetails wurden beim Abschlussessen final auf eine Speisekarte geschrieben. Genau die half ein Jahr später Gutendorf, an sein Geld zu kommen. Am Saisonende wurden nämlich fast alle Prämien fällig. Und ein neuer Vorstandschef wollte für den Erfolg nicht so viel bezahlen. „Ich habe in Meiderich den Grundstock meines Vermögens gelegt“, resümierte der Cheftrainer.
Mit Weltmeister Helmut Rahn (ehemals Rot-Weiss Essen), der für stattliche 50.000 Mark Ablöse mit fast 34 Jahren vom SC Enschede kommt, dem bulligen Torhüter Manfred „Cassius“ Manglitz sowie Offensivspieler Heinz Höher (beide von Bayer Leverkusen) gelingen drei Glücksgriffe. Vorn wirbelt der junge Werner „Eia“ Krämer, erzielt elf Treffer und wird später zum Nationalspieler.
MSV Duisburg: Training mit Bleiwesten
Trainer Gutendorf trimmt seine hungrige Truppe mit Bleiwesten und einer guten Portion Humor zum fittesten Team der neu geschaffenen Bundesliga. Laufstärke muss sein, um die Riegel-Taktik spielen zu können. Steilpässe, direktes Spiel, Ballbesitz-Übungen, viel Torschusstraining – so überrascht der MSV die Bundesliga. Selbst Bundestrainer Sepp Herberger, der oft live im Stadion zusieht, ist verblüfft.
Eine starke Defensive, eine schnell vorgetragene Offensive, das macht der Konkurrenz mächtig zu schaffen. Selbst Uwe Seelers HSV bekommt an der Wedau mit 0:4 einen auf die Mütze. Seelers damalige Frage vor dem ersten Spiel an der Wedau – „Wo liegt eigentlich dieses Meiderich?“ – wird im Zebra-Twist verewigt. Ebenso Helmut Rahn und „Eia“ Krämer. Der Song läuft zum Rückrundenstart im Januar 1964 gegen den Karlsruher SC, ist gleich ein Renner und Dauerbrenner. Platten werden gepresst. Der Zebra-Twist kommt nie mehr aus der Mode. Rudi Gutendorf auch nicht.
Flucht nach Militärputsch in Chile
Von Meiderich aus geht es für ihn über Stuttgart, Schalke und Offenbar endgültig in die Fußballwelt hinaus. 55 Stationen, 30 Länder, alle fünf Kontinente. Brandgefährlich war es in Chile, wo er 1973 als Trainer die Nationalmannschaft auf die WM in Deutschland vorbereitete.
Das Militär putschte unter General Pinochet, Gutendorf hatte Wochen zuvor mit Staatspräsident Allende freundschaftlich Whiskey getrunken. Nun musste er fliehen. Die deutsche Botschaft lotste den Koblenzer bei Nacht und Nebel zum Hafen in Santiago und schleuste ihn auf ein Kreuzfahrtschiff.
„Selbst das Leben eines Nationaltrainers ist in seiner solchen Situation des Umsturzes nicht viel wert. Im Nationalstadion, wo ich gearbeitet und mein Trainerzimmer hatte, wurden nun Leute erschossen“, erinnerte sich Gutendorf kurz vor seinem 90. Geburtstag.
Filmdreh mit Klaus Kinski im Urwald Perus
Als Trainer des peruanischen Erstligisten Sporting Cristal Lima reiste er in den 70er-Jahren in einer Spielpause in den Urwald, um Dreharbeiten zum Film „Aguirre, der Zorn Gottes“ auf Einladung von Regisseur Werner Herzog beizuwohnen. Hauptdarsteller Klaus Kinski entpuppte sich „privat als noch bekloppter als in den Filmen“, so Gutendorf, „er hat eine Latrine zerlegt, Herzog hat sein Gewehr geholt und Kinski mit einer Kugel gedroht.“
In Australien lernte der einstige MSV-Cheftrainer Ende der 70er-Jahre seine Frau Marika kennen. Mit ihr lebte Riegel-Rudi bis zu seinem Tod am 13. September 2019 in der Telegrafenstation. Marika zu Ehren steht im Garten des Hauses eine australische Nationalflagge.
Das war die Saison des Meidericher SV 1963/64:
Hinrunde
24.8.63: Karlsruher SC - MSV 1:4
31.8.63: MSV - Eintracht Frankfurt 3:1
7.9.63: Preußen Münster - MSV 4:2
14.9.63: MSV - Hertha BSC 1:3
21.9.63: Werder Bremen - MSV 1:1
5.10.63: MSV - 1860 München 3:0
12.10.63: FC Schalke 04 - MSV 2:2
19.10.63: MSV - 1. FC Saarbrücken 3:1
26.10.63: 1. FC Köln - MSV 3:3
9.11.63: MSV - Hamburger SV 4:0
16.11.63: Eintr. Braunschweig - MSV 0:0
23.11.63: MSV - Borussia Dortmund 3:3
30.11.63: 1. FC Nürnberg - MSV 2:0
7.12.63: MSV - VfB Stuttgart 3:0
14.12.63: 1. FC Kaiserslautern - MSV 1:1
Rückrunde
11.1.64: MSV - Karlsruher SC 2:0
25.1.64: MSV - Preußen Münster 0:0
8.2.64: Eintracht Frankfurt - MSV 2:2
15.2.64: MSV - Werder Bremen 1:0
29.2.64: MSV - FC Schalke 04 3:0
7.3.64: 1. FC Saarbrücken - MSV 0:2
14.3.64: MSV - 1. FC Köln 2:2
21.3.64: Hamburger SV - MSV 2:2
27.3.64: Hertha BSC - MSV 5:2
31.3.64: 1860 München - MSV 0:0
4.4.64: MSV - Eintracht Braunschweig 5:1
11.4.64: Borussia Dortmund - MSV 0:0
18.4.64: MSV - 1. FC Nürnberg 0:0
25.4.64: VfB Stuttgart - MSV 1:2
9.5.64: MSV - 1. FC Kaiserslautern 3:0
DFB-Pokal, 1. Runde
7.4.64: MSV - Hertha BSC 1:2
Die eingesetzten MSV-Spieler
Tor: Manfred Manglitz (30 Spiele).
Feldspieler: Johann Cichy (19 Spiele, 1 Tor), Uwe Erich (2), Dieter Danzberg (7), Horst Gecks (12/5), Kurt Gorgs (1), Hartmut Heidemann (29/1), Heinz Höher (10), Werner Krämer (22/11), Werner Kubek (8/2), Werner Lotz (29/7), Manfred Müller (18), Ludwig Nolden (29/6), Günter Preuß (26), Helmut Rahn (18/8), Johann Sabath (28/2), Heinz Versteeg (30/10), Gustav Walenciak (12/7).
Trainer: Rudi Gutendorf.