Münster. Historiker der Uni Münster stellen erste Ergebnisse ihrer Studie vor. Sie attestieren dem Bistum jahrzehntelanges Weggucken – aber einen Wandel

Die Fakten – sie sind so grausig wie vermutlich in vielen anderen Bistümern im Land: Die Kinder, in neun von zehn Fällen Jungen, waren im Schnitt elf Jahre alt, als sich Geistliche an ihnen vergingen. Rund 200 Priester haben nach den vorliegenden Erkenntnissen von Wissenschaftlern der Universität Münster zwischen 1945 und 2018 im Bistum Münster an Kindern und Jugendlichen missbraucht.

49 dieser Personen hat die Kommission genauer unter die Lupe genommen, hat allein bei ihnen 92 Betroffene ausgemacht. Der erlebte Missbrauch reichte vom einmaligen Vorfall bis zum zehn Jahre währenden Martyrium für den Betroffenen. Vor allem in den Jahren zwischen 1960 und 1990 habe es Intensiv- und Langzeittäter im Bistum Münster gegeben, die bis zu 25 Jahre lang Minderjährige missbrauchten.

„Spezifisch katholische Schamkultur“ macht Missbrauch möglich

Dass derlei möglich war, führen die Historiker (ergänzt durch eine Ethnologin) auf eine „spezifische katholische Schamkultur“ zurück, die das Reden über Fälle sexualisierter Gewalt in Familie, Gemeinde und Bistumsleitung verhinderte. Diese „Grenzen des Sagbaren“ führten dazu, dass Betroffene selten den Mut fanden, die Übergriffe zu melden. Wenn sie es taten, reagierte das familiäre und soziale Umfeld häufig mit Unglaube und Abwehr.

Die beschuldigten Priester wurden aus der Gemeinde genommen, kamen übergangsweise mal in eine Therapie, wurden aber nach einer gewissen Schonfrist wieder in der Seelsorge eingesetzt. „Den Skandal zu vermeiden und damit die Kirche als Institution zu schützen, aber auch den ‚Mitbruder‘ in seiner priesterlichen Existenz nicht zu gefährden – das waren Motive für diese Vorgehensweise“, sagt Historiker Prof. Thomas Großbölting, der die Studie leitet.

Das Team der Aufarbeitungsstudie (v.l.n.r.): Prof. Dr. Klaus Große Kracht, Dr. Bernhard Frings, Natalie Powroznik, Prof. Dr. Thomas Großbölting, David Rüschenschmidt.
Das Team der Aufarbeitungsstudie (v.l.n.r.): Prof. Dr. Klaus Große Kracht, Dr. Bernhard Frings, Natalie Powroznik, Prof. Dr. Thomas Großbölting, David Rüschenschmidt. © Westfälische Wilhelms-Universität/Peter Lessmann

Folge dieser Praktik, bei der die Kleriker wenn schon nicht im Amt, so doch zumindest weiter als Würdenträger in Lohn und Brot standen: In nicht wenigen Fällen wiederholte sich das Vorgehen. „Wir sehen darin ein deutliches Führungs- und Kontrollversagen der Bistumsleitung, das sich nicht auf Einzelfälle begrenzt, sondern über Jahrzehnte zu beobachten ist“, betont Großbölting.

Vor allem in den 1960er und 1970er Jahren gab es eine Häufung von Missbrauchstaten. Dies, wie es es Papst Benedikt getan hat, auf die sexuelle Revolution zurückzuführen, führt nach Ansicht der Historiker in die Irre: „Vielmehr traf der gesellschaftliche Wertewandel die Kirche unvorbereitet. Auf die neue gesellschaftliche Situation konnte sie keine Antwort geben“, so Prof. Klaus Große-Kracht.

Erst seit dem Jahr 2000, vor allem seit 2010, änderte sich die Einstellung der Bistumsleitung, so die Wissenschaftler. Sie betonen, dass sie vollständigen, ungehinderten Zugang zu allen Akten und Untersuchungen haben – das bischöfliche Geheimarchiv eingeschlossen.

„Das ist dem Bistum wichtig; denn nur so besteht die Aussicht darauf, dass die später vorgelegten Ergebnisse der Forscher eine fundierte Grundlage für die dann erforderliche Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen sein können“, so der Interventionsbeauftragte des Bistums Münster, Peter Frings. So seien auch die Verantwortlichen im Bistum nicht vorab über die Zwischenergebnisse informiert. Die vollständige Studie soll 2022 vorgestellt werden, dann sollen auch Namen genannt werden. Die Veröffentlichung zum jetzigen Zeitpunkt darf somit auch als Kontrapunkt zu den Konflikten in Köln gesehen werden.

Erkenntnisse sind „nicht überraschend, aber doch erschreckend“, so das Bistum

Die Erkenntnisse seien „leider – nach dem, was wir auch aus anderen Untersuchungen schon wissen – nicht überraschend, aber doch erschreckend“, so die Pressestelle des Bistums Münster. Für die Verantwortlichen sei die Fortführung der priesterlichen Existenz und das Bild der Kirche nach außen offenbar oberste Leitschnur ihres Handelns gewesen. „Das bleibt für uns heute unverständlich und lässt uns fassungslos zurück. Eine der Fragen, die zu beantworten sein wird, ist: wie konnte es dazu kommen, dass man die vom Missbrauch Betroffenen so ganz aus dem Blick gelassen hat?“, so der Interventionsbeauftragte des Bistums Münster.

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Die Kommission im Bistum Münster ist, anders als in anderen Diözesen, nicht mit Juristen, sondern mit Historikern besetzt. Das ermögliche eine Aufarbeitung der Machtstrukturen und Mentalitäten sowohl in der Gesellschaft als auch der Kirche. Nur so ließen sich die Motive und Muster erkennen, die den Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche geprägt haben. Das Bistum Essen hatte sich zusätzlich auch zu einer psychologischen Aufarbeitung entschlossen.

Die Kommission führt zahlreiche Gespräche mit den Betroffenen. Das sei man diesen schuldig. Und: „Gerade in diesen Gesprächen treten Tatbestände zu Tage, die sich in den Akten des Bistums nicht finden lassen“, unterstreicht Klaus Große Kracht. Dies sei umso wichtiger als dass lange Zeit die Opfer des Missbrauchs kein Gehör fanden.

Offenbar hat sich das erst mit oder kurz nach dem Wechsel an der Spitze des Bistums geändert – im Dezember 2008 folgte der damalige Bischof von Essen, Felix Genn, auf den damals 77-jährigen Reinhard Lettmann, seit 1980 Bischof von Münster. Lettmann, der 2013 starb, ist verantwortlich für einen besonders bekannten Fall: Er hatte einen wegen Missbrauchstaten mehrfach verurteilten Kaplan nicht suspendiert, sondern nach Übergriffen mehrfach versetzt . Das hat jüngst sogar seine Heimatpfarre in Datteln bewogen, einem nach Lettmann benannten Gebäude diesen Namen wieder zu entziehen.