Dinslaken/Hünxe/Idstein. Die Nazis ermordeten im Kalmenhof in Hessen zahlreiche behinderte Kinder aus NRW. Eines war der fünfjährige Willi aus Hünxe. Er war schwerhörig.

Das ist eine entsetzlich traurige Geschichte. Es ist die Geschichte des kleinen Willi T. aus Hünxe. Er wurde ermordet, weil er eine Behinderung hatte. Willi war schwerhörig. Er war gerade einmal fünf Jahre alt, als er in der sogenannten „Kinderfachabteilung“ des Kalmenhofs, einer Tötungsanstalt in Idstein/Hessen, umgebracht wurde – als eines von 5000 Kindern, die der „Euthanasie“ der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Willis entsetzlich traurige Geschichte ist auch die Geschichte vieler anderer Kinder aus dem Ruhrgebiet und vom Niederrhein, die im Kalmenhof umkamen.

700 Kinder wurden getötet

Etwa 700 Kinder wurden in dem Krankenhaus in Hessen getötet, manche erst zwei Jahre alt. Ihre Schicksale sind nur schwer zu rekonstruieren. Vor dem Einmarsch der Alliierten hat der Kalmenhof die Akten verbrannt. Nur für sehr wenige – wie für Karin Alt aus Moers – gibt es deswegen Stolpersteine.

Für Willi T. gibt es keinen Stolperstein. Sein Schicksal ist in Hünxe nicht bekannt. Was damals wirklich geschehen ist, wurde selbst den Angehörigen nicht mitgeteilt. Die verbliebenen Unterlagen, die Willis viel zu kurze Lebensgeschichte dokumentieren, liegen bis heute in den Prozessakten im Hauptstaatsarchiv in Hessen und im Archiv des Landschaftsverbands Rheinland.

Auch interessant

„Es ist mir nie gesagt worden, dass das Kind beseitigt werden sollte“

Willis Eltern waren Landwirte, hatten acht Kinder. Willi „war schon bei der Geburt nicht gesund“, berichtete die Mutter nach dem Krieg in der polizeilichen Vernehmung. Der kleine Junge sei „stumm“ gewesen, „der Kopf fiel stets rückwärts“, beschrieb der Vater. Der Amtsarzt in Dinslaken drängte die Eltern, ihren Jungen in die Rheinische Landesklinik nach Bonn zu bringen.

Heutzutage feiern Fünfjährige an ihrem Ehrentag Kindergeburtstag. Damals reiste Willi an seinem fünften Geburtstag, am 8. Januar 1944, mitten im Krieg, mit seiner Mutter nach Bonn – „in der Hoffnung, dass die Leiden entweder geheilt oder gebessert würden“, wie sie nachher sagte. Willi hatte da noch zwölf Wochen zu leben.

Danach sah die Mutter ihren Jungen nur noch einmal: im Februar 1944 bei einem Besuch in Bonn. „Dass das Kind unheilbar sei“ sei ihr nicht gesagt worden, erinnerte sie sich später. Von einem „zunehmenden Schwächezustand“ oder gar einem „bevorstehenden Ableben“ des Sohnes sei nie die Rede gewesen, bestätigt auch Willis Vater in der Vernehmung: „Es ist mir nie gesagt worden, dass das Kind beseitigt werden sollte.“

Ein Arzt fällte Willis Todesurteil

Trotzdem wurde noch im selben Monat Willis Todesurteil gefällt: „Meldung gemäß Runderlass ist erfolgt“ schrieb am 23. Februar 1944 ein Arzt in Bonn in den Untersuchungsbericht und ordnete die „Unterbringung in Spezialanstaltspflege“ an. „Geistiger Defektzustand“ lautete die Diagnose. Willi hatte noch fünf Wochen zu leben.

Der „Runderlass“ aus dem Jahr 1939, auf den der Arzt sich berief, verpflichtete Hebammen und Ärzte, Kinder mit „schweren angeborenen Leiden“ zu melden. Vorgeblich ging es um wissenschaftliche Fragen, tatsächlich um die systematische Tötung von Kindern mit Behinderung. Die Kinder wurden dem „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ in Berlin gemeldet, der auf dem Papier über Tod und Leben entschied.

Auch interessant

Ähnlich war das Verfahren bei der sogenannten „Aktion T4“, der systematischen Ermordung von Erwachsenen mit Behinderung, der 70.000 Menschen zum Opfer fielen. Einer dieser T4-Gutachter war der Leiter der Jugendpsychiatrie der Rheinischen Landesklinik in Bonn, Dr. Aloys Schmitz. Er hat die Aufnahmebescheinigung von Willi T. unterschrieben.

Die Kinder bekamen vergifteten Brei zum Abendessen

Von der Verlegung von Bonn zum Kalmenhof in Idstein erfuhren die Eltern erst nach Willis Tod. Das Krankenhaus diente als Zwischenstation für Transporte zur Tötungsanstalt Hadamar, seit 1942 wurden hier auch behinderte Kinder ermordet. Eine Krankenschwester mischte ihnen Überdosen des Schlafmittels Luminal in den Brei, stellten die Richter später fest. Die Kinder starben „über Stunden oder Tage“, heißt es in einer vom jetzigen Betreiber, der Vitos Teilhabe, in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Studie.

Willi T. und etwa 360 weitere Opfer des Kalmenhofs sollen auf dem kleinen Friedhof auf dem Gelände begraben sein. Daran gibt es öffentliche Zweifel.
Willi T. und etwa 360 weitere Opfer des Kalmenhofs sollen auf dem kleinen Friedhof auf dem Gelände begraben sein. Daran gibt es öffentliche Zweifel. © picture alliance/dpa | Arne Dedert

Welche Kinder „entsprechend zu behandeln“ seien, stand auf einer Liste, die im Schreibtisch der Ärztin lag: Die medizinische Leitung des Kalmenhofs hatte zu der Zeit Mathilde Weber aus Dinslaken. Die infolge des Giftes oft blau verfärbten Leichen der getöteten Kinder wurden mit einem nach unten zu öffnenden und damit wiederverwendbaren Klappsarg „bestattet“.

„… müssen wir Ihnen die Nachricht übermitteln, dass Ihr kleiner Sohn sanft entschlafen ist … “

Willi wurde am 24. März 1944 mit einem Transport von 20 Kindern von der Rheinischen Landesklinik zum Kalmenhof gebracht. Er hatte noch eine Woche zu leben.

Es war der letzte Transport aus Bonn in der Amtszeit der damals 34-jährigen Ärztin Mathilde Weber. Alle 20 Kinder starben. „Zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen die Nachricht übermitteln, dass Ihr kleiner Sohn hier am 1. April 1944 sanft entschlafen ist“, schrieb der Direktor des Kalmenhofs an die Eltern. Todesursache sei eine „Kreislaufschwäche“ gewesen.

Willis Familie lebt noch in Hünxe. Sie hat uns gebeten, den Nachnamen nicht zu nennen. Zwei von Willis Brüdern waren ebenfalls schwerhörig. In einem Fall ging das beim Amtsarzt als Schüchternheit durch. Im anderen ist es nicht aufgefallen. Das hat ihnen wohl das entsetzlich traurige Schicksal von Willi und den anderen Kindern des Kalmenshofs erspart.

Auch interessant

Das passierte nach dem Krieg

Die Ärztin Mathilde Weber wurde 1947 „wegen Mordes in einer unbekannten Anzahl von Fällen“ zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde in einem weiteren Prozess auf dreieinhalb Jahre reduziert – angeblich auch aufgrund einer Unterschriftenaktion der Bürger in Idstein. Mathilde Weber heiratete den KZ-Arzt Julius Muthig und lebte bis kurz vor ihrem Tod in Idstein.

Streit um die letzte Ruhestätte

Der Kalmenhof ist heute unter der Bezeichnung „ Vitos Teilhabe “ ein Standort der Jugend- und Behindertenhilfe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV) . Der genaue Verbleib der Überreste der im Kalmenhof getöteten Menschen ist ungeklärt. Als Vitos vor Jahren das verlassene Klinikgebäude als „tolle Immobilie aus den 20er Jahren“ verkaufen wollte, ist darüber ein heftiger Streit entbrannt.

Verein fürchtet, dass Opfer namenlos verscharrt wurden

Angeblich sind rund 360 Opfer des Kalmenhofs auf dem Anstaltsfriedhof begraben. Martina Hartmann-Menz, Historikerin und Mitgründerin des Vereins „Kalmenhof Gedenken“, bezweifelt das. Das Grundstück sei zu klein. Ein Gutachten kommt zum selben Ergebnis. Bei Grabungen in der Umgebung fand man keine Gebeine. Hartmann-Menz fürchtet, dass die Opfer irgendwo namenlos verscharrt sind. Euthanasie-Opfer hätten keine Lobby, kritisiert sie. Laut Gräbergesetz stünde allen Opfern ein Grab mit eigener Namenstafel zu. Auf Soldatenfriedhöfen sei das selbstverständlich. Für die Kinder des Kalmenhofs nicht.

Am Volkstrauertag werden die Gebeine dreier Kinder, die im Rahmen der Grabungen exhumiert wurden, in einer geschlossenen Gedenkveranstaltung beigesetzt. Der LWV will das Areal, auf dem Tote vermutet werden, eingrenzen und eine Gedenktafel aufstellen.

>>Die Opfer

Der Verein „Kalmenhof Gedenken“ führt eine Liste sämtlicher ermordeten oder auf andere Weise im Kalmenhof verstorbenen Menschen auf seiner Homepage kalmenhof-gedenken.de .

Dazu gehören auch Karin Alt ( Moers ), Johann Wilhelm Arntz, Gisela Grandadam, Waltraut Jakobs, Anneliese Koch, Erich Krohm, Alexander Kula, Anneliese Koch, Ingeborg Renshoff, Ursula Schneider ( Duisburg ), Gerda Basener, Horst Diegelmann, Antonius Heuwinkel, Rosemarie Hinse, Christa Kallies, Marianne Labriola, Herbert Nass, Maria Otto, Peter Rosowsky, Karl Wagner ( Essen ), Dieter Brau, Theo Büchter, Ingrid Degenhard, Waltraud Hilger, Reiner Isenburg, Hannelore Kiefer, Hans Kürten, Ursula Wesel, Lieselotte Wevers ( Düsseldorf ), Luise Mina Heidtmann ( Kleve ), Hans-Georg Jansen ( Rees ), Helmuth Stemmer ( Mülheim ), Annemarie Stevens, Elisabeth Theis ( Oberhausen ), Albert Welbers ( Isselburg ).