Kreis Heinsberg. In Gangelt gab es vor einem halben Jahr den ersten Corona-Ausbruch in NRW. Es folgten Quarantäne und Anfeindungen. Was aus der Gemeinde wurde.

Es ist ein ruhiger, sonniger Vormittag in der beschaulichen Gemeinde Gangelt. Auf dem Parkplatz eines Supermarkts schiebt eine Frau ihren gut gefüllten Einkaufswagen gemächlich zu ihrem Auto, vor der benachbarten Arztpraxis sitzen zwei ältere Herren auf einer Bank und warten darauf, dass eine Arzthelferin ihnen ihr Rezept raus reicht. Es scheint, als sei in Gangelt wieder so etwas wie Normalität eingekehrt. Eine Normalität, die vor einem halben Jahr fast schlagartig verloren gegangen war.

Rückblick: Am 15. Februar – also genau vor einem halben Jahr – feiern sie in einem Ortsteil von Gangelt Karneval. „Kappensitzung“. Es wird geredet, gelacht und gefeiert. Damals ahnt wahrscheinlich keiner der Karnevalisten, dass diese Feier einige Wochen später bundesweit, ja sogar international unrühmliche Bekanntheit erlangt. Hier waren die ersten Corona-Infektionen in Nordrhein-Westfalen nachgewiesen worden. Wer mitgefeiert hat, muss vorsorglich in Quarantäne, die Familie gleich mit dazu. Der Kreis Heinsberg wird zur „Erstregion“ und „Epizentrum“.

Gangelt heute: Die Situation hat sich entspannt

Und heute? „Momentan ist die Situation recht entspannt“, teilt der Kreis Heinsberg auf Anfrage mit. Insgesamt habe es 2010 bestätigte Coronafälle gegeben (Stand 13. August), aktuell gelten 40 Personen noch nicht als genesen. Die 7-Tage-Inzidenz beträgt 4,3 pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: Der Inzidenz im Kreis Wesel liegt bei 19,1. Man sei derzeit also alles andere als ein Hotspot, so ein Kreissprecher.

Auch den Menschen auf Gangelts Straßen ist die Entspannung anzumerken. „Es ist jetzt wieder locker, aber es wird immer noch gut auf die Maßnahmen geachtet“, sagt Andrea Paulußen, die an diesem Vormittag ihr Kind im Kinderwagen durch die Straßen von Gangelt fährt. „Damals habe ich mir schon Sorgen gemacht, aber ich war wegen der Elternzeit sowieso viel zuhause“, erzählt sie.

„So berühmt war Gangelt noch nie“

Ein Bild aus dem vergangenen März: Menschen warten in Gangelt vor einer Apotheke. Wegen der Ansteckungsgefahr wurden die Kunden nur über die Notdienstklappe bedient.
Ein Bild aus dem vergangenen März: Menschen warten in Gangelt vor einer Apotheke. Wegen der Ansteckungsgefahr wurden die Kunden nur über die Notdienstklappe bedient. © FUNKE Foto Services | Kai Kitschenberg

Auch Ulrich Servas erinnert sich noch gut an die Zeit Ende Februar, als Gangelt und Heinsberg plötzlich überall in den Medien waren. „So berühmt war Gangelt noch nie.“ Der Betreiber eines kleinen Antiquitätenladens unweit des Heinsberger Tors war zu dieser Zeit in einer Reha-Behandlung und hätte eigentlich regelmäßig zu Besuch nach Hause gedurft. Doch irgendwann sei der Heimaturlaub gestrichen worden und auch Besuch aus Gangelt durfte er nicht mehr empfangen. In der kleinen Gemeinde sei es in dieser Zeit ganz ruhig gewesen, erzählt er. „Auf den Straßen war nichts los.“

Eine Beobachtung, die auch Blumenhändlerin Jacqueline Peeters damals durchaus gemacht hat. „Es war schon ruhiger als sonst, aber nicht so, wie es in manchen Medien dargestellt wurde“, ärgert sie sich. Teilweise seien Bilder und Videos so in Szene gesetzt worden, um den Ort menschenleer zu zeigen. „Es war teilweise lachhaft, wie Gangelt von außen dargestellt wurde.“

Anfeindungen und Stigmatisierung

Die Folgen der Berichterstattung bemerkten dann auch einige Bewohner des Kreises in diesen Tagen – zumindest wenn sie über die Kreisgrenzen hinaus fuhren. „In der Anfangszeit hat es unerfreulicherweise außerhalb des Kreises Anfeindungen gegeben, insbesondere wenn die drei Autokennzeichen HS, GK und ERK die Herkunft „Kreis Heinsberg“ verrieten“, sagt ein Kreissprecher.

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Eine Erfahrung, von der viele in Gangelt mitbekommen haben, weil sie es entweder selbst erlebt oder erzählt bekommen haben. „Mein Mann ist selbstständig. Damals hat er oft gehört ‘Bleib lieber zuhause’, wenn er gesagt hat, dass er aus Gangelt kommt“, erzählt Andrea Paulußen. Auch Ulrich Servas kennt die Geschichten. „Da wurden Leute angeschnauzt, weil sie „HS“ auf dem Kennzeichen hatten“, sagt Servas. „Seuchenpanik“, nennt er das.

Die Anfeindungen haben sich laut Kreisverwaltung schnell wieder gelegt – was wegen der Pandemie aber geblieben ist, sind Existenzängste und die Sorge vor einem zweiten Lockdown. Blumenhändlerin Peeters kämpft gegen ausbleibende Umsätze, ihrem Mann seien als Tontechniker viele Aufträge weggebrochen.

Ulrich Servas hofft, dass die Corona-Zahlen nicht wieder steigen: „Der Anstieg derzeit ist bedenklich.“ Gangelt scheint von der Normalität eingeholt zu sein. Es sind Probleme, Ängste und Sorgen, die fast schon Corona-Normalität geworden sind. In Gangelt, im Kreis Heinsberg. In ganz NRW.