Mehrhoog. Vor fünf Jahren wurden Flüchtlinge in der Turnhalle in Mehrhoog einquartiert. Anstatt zu protestieren, engagierten sich viele Dorfbewohner.

Ende September 2015. In Nigeria bereitet sich eine hochschwangere Mutter mit ihren beiden kleinen Kindern auf die Ausreise nach Deutschland vor. Sie muss fliehen, weil ihr Schwiegervater ihren ältesten Sohn töten will. Er ist Autist. In der Ägäis klammert sich auf einem Schlauchboot eine Familie aus Syrien aneinander, die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland dauert viel länger als geplant. Die Familie musste fliehen, weil in ihrer Heimat Krieg herrscht. In einem Dorf am Niederrhein kommen 400 Menschen in die Gaststätte Pollmann zu einer Bürgerversammlung. Am Fenster hängt ein Plakat, auf dem steht: „Refugees welcome – Mehrhoog hilft.“

Fast fünf Jahre später. Der GuGe-Laden an der Bahnhofstraße wirkt wie eine kleine Boutique. Liebevoll eingerichtet, angenehmes Licht, die Holzregale sind gefüllt mit T-Shirts, Pullovern, Hosen, Kleidern, Spielsachen und Büchern. Das kleine Ladenlokal ist ein Sozialkaufhaus, Menschen mit geringem Einkommen können hier für kleines Geld shoppen. Ohne die Bürgerversammlung im September 2015 gäbe es den GuGe-Laden nicht. Er ist aus einer Kleiderkammer entstanden, mit der ehrenamtliche Helfer Flüchtlinge versorgten.

Zivilgesellschaftliches Bewusstsein

Mehrhoog ist ein Stadtteil von Hamminkeln, 6400 Menschen leben hier. In den späten neunziger Jahren hatte das Dorf keinen guten Ruf, Neonazis machten Mehrhoog unsicher. Etliche Einwohner stemmten sich gegen die rechtsextremen Umtriebe, das schuf ein nachhaltiges zivilgesellschaftliches Bewusstsein. Als sich im Herbst 2015 Hunderttausende Menschen auf den Weg nach Deutschland machten, entschied sich die Stadt, die Hogenbuschhalle in Mehrhoog zur Flüchtlingsunterkunft umzufunktionieren. Bei der Versammlung in der Gaststätte Pollmann gab es keine Proteste gegen das Vorhaben. Stattdessen „trugen sich 60 oder 70 Leute als Helfer in eine Liste ein“, erinnert sich Hans-Jürgen Kraayvanger, der zu einem der Koordinatoren der Flüchtlingshalle wurde.

Die Mehrhooger zogen die Hilfe professionell auf. Team Halle. Team Kleiderkammer. Team Integration. Überall packten Dorfbewohner in der Initiative „Mehrhoog hilft“ mit an, versuchten den Flüchtlingen in der Halle das Leben angenehmer zu gestalten, sammelten Kleidung im Keller des Feuerwehrhauses, bauten eine Fahrradwerkstatt auf, begleiteten Menschen auf Ämtergängen. „Die Leute haben gesagt, da ist Not, da muss ich helfen“, blickt Michael Möllenbeck zurück, ebenfalls einer der Koordinatoren der ehrenamtlichen Arbeit. Ein halbes Jahr waren die Flüchtlinge in der Turnhalle untergebracht.

Hochschwanger auf dem Weg nach Deutschland

Darunter war auch Rashida Adebayo, eine zierliche Frau, 38 Jahre alt, sie stammt aus einem Dorf in Nigeria. Im Herbst 2015 war sie mit dem dritten Kind schwanger, ihr ältester Sohn Ahmad, damals vier, ist Autist. Ihr Schwiegervater war ein traditioneller Heiler, einer, der von sich behauptete, in die Zukunft schauen zu können. „Er hat gesagt, mein Sohn sei böse“, erzählt sie. Eines Tages hörte sie ihren Schwiegervater und ihren Mann tuscheln, sie erahnte, worum es ging. Die beiden wollten Ahmad töten. „Ich war völlig verängstigt.“ Sie entschloss sich, Nigeria zu verlassen.

Mit dem Flugzeug nach Mailand, dann nach Düsseldorf, Dortmund, Duisburg. Hochschwanger, mit den beiden kleinen Jungs. Am 15. Oktober 2015 kommt sie nach Mehrhoog. In der Turnhalle bricht sie zusammen, die Geburt steht unmittelbar bevor. Sie wird ins Krankenhaus gebracht. „Ich musste die beiden Jungs alleine lassen, das war schlimm.“ Die Ehrenamtlichen kümmern sich um die beiden. Ahmad ist schwierig, er schreit, hat Angst. Am 31. Oktober kommt das Kind zur Welt. Es ist wieder ein Junge.

Heute ist Ahmad ruhiger. Er besucht eine Förderschule. Der Zweitälteste spielt Fußball beim VfR Mehrhoog, der Kleine geht in die Kita. Rashida Adebayo würde gerne arbeiten, in Nigeria war sie Hebamme. An und an hilft sie im GuGe-Laden aus. „Ich habe niemals solche Gastfreundschaft erwartet. Und ich hätte niemals gedacht, dass Ahmad so ein Leben führen kann.“

Mit dem Schlauchboot über die Ägäis

In der Turnhalle waren im Herbst 2015 Moamena Al-Mahamamed und ihre Familie untergebracht. Sie stammen aus einem Dorf bei Da’ara, der Stadt in Syrien, in der 2011 die Revolution begann. Nach Ausbruch des Krieges flohen sie zunächst nach Damaskus, dann entschieden die Eltern im Spätsommer 2015, das Land ganz zu verlassen. Ein Onkel war bereits in Deutschland, also war das Ziel klar. Syrien, Libanon, Türkei, dann mit dem Schlauchboot nach Griechenland.

„Das Boot hatte einen megakleinen Motor, der Mann, der uns fahren sollte, ist von Bord gesprungen und an Land zurückgeschwommen“, erzählt das junge Mädchen mit den langen schwarzen Haaren. Zwölf Stunden dauert die Überfahrt, 45 Menschen aus Afghanistan, Jordanien, dem Irak, Syrien und der Türkei waren an Bord und stehen schlimme Ängste aus. Von Griechenland aus geht es zu Fuß weiter, wochenlang, durch Wälder, immer auf der Hut vor der Polizei.

Freiwillige? Das hat sie schwer beeindruckt

Schließlich erreicht die Familie Deutschland, landet in Mehrhoog. „Wir wollten uns nur noch ausruhen. Meiner Mutter ging es nicht gut, sie war damals schwanger, wir waren sehr besorgt wegen ihr.“ In der Turnhalle leben die Menschen eng an eng, es gibt so gut wie keine Privatsphäre. „Manchmal gab es Streit“, erinnert sich Moamena. „Aber die Helfer waren immer für uns da und haben versucht, die Probleme zu lösen.“ Dass diese Menschen alle Freiwillige waren, das habe sie erst später herausgefunden. Es hat sie schwer beeindruckt.

Heute lebt Moamenas Familie in einer Wohnung in Mehrhoog. Der Mutter geht es besser. Moamena hat schwimmen gelernt. Die Eltern lernen noch Deutsch. Moamena spricht es perfekt, in der Turnhalle hat sie es sich über Youtube beigebracht. Sie besucht ein Gymnasium, ist in der siebten Klasse, Notendurchschnitt 1,9, und sie engagiert sich in einem Musikprojekt in der Begegnungshalle.

Aus der Flüchtlingshilfe Geld für die Vereine

In Mehrhoog sind Schicksale zusammengeflossen. Viele von den mehr als 100 Ehrenamtlichen, die sich nach dem Herbst 2015 engagierten, sind heute noch dabei, es sind Freundschaften entstanden. Flüchtlinge arbeiten beim Nikolausmarkt mit, die allermeisten sind bestens integriert. „Wir waren immer auf Augenhöhe. Das war Integration durch Selbstverständlichkeit“, sagt Michael Möllenbeck.

Der GuGe-Laden, der aus der Kleiderkammer entstand, wirft immer ein bisschen Geld ab. Im vergangenen Jahr waren es 18.000 Euro. Das Geld wird an die örtlichen Vereine verteilt und an die Kitas und die Schulen. Aus der Flüchtlingshilfe ist in vielerlei Hinsicht ein Mehrwert entstanden.