Viersen. Sandra M. galt als nicht geeignet für den Beruf der Erzieherin. Die Kita in Viersen wurde darüber aus Datenschutzgründen aber nicht informiert.
Ein kleines Kind stirbt nach einem Atemstillstand in einer Kindertagesstätte. Eine junge Erzieherin wird unter Mordverdacht verhaftet. Im Zuge der Ermittlungen stellt sich heraus, dass es auch in früheren Arbeitsstätten der Frau zu dramatischen Zwischenfällen gekommen ist. Hätte der Tod der dreijährigen Greta in Viersen verhindert werden können?
Heinz Hilgers ist erschüttert. „In den letzten 40 Jahren, in denen ich im Kinderschutz aktiv bin, ist mir ein solcher Fall nicht bekannt geworden“, sagt der Präsident des Kinderschutzbundes. Hilgers fordert die Einführung eines Melderegisters, über das sich die Leitungen von Kindertagesstätten über Bewerber informieren können. „Der Datenschutz sollte in diesem sensiblen Bereich hinter das Kindeswohl zurücktreten“, betont der Kinderschützer.
Sie galt als für den Beruf ungeeignet
Gäbe es ein solches Register, wäre Sandra M. vielleicht nicht in Viersen eingestellt worden. Frühere Arbeitgeber hatten der heute 25-Jährigen nach Ermittler-Angaben bescheinigt, für den Beruf ungeeignet zu sein. Bereits in ihrem Berufspraktikum, das sie zwischen August 2017 und Juli 2018 in Krefeld absolvierte, soll die Frau durch einen Mangel an Empathie aufgefallen sein. Trotzdem erhielt sie ihre Anerkennung als staatlich geprüfte Erzieherin.
„Das Gutachten der Praxisstelle ist nur für die Schule für den internen Gebrauch gedacht“, heißt es seitens der Gewerkschaft GEW. Die Entscheidung über die Anerkennung liege beim jeweiligen Berufskolleg, heißt es beim Landesjugendamt. Bei Sandra M. scheint es den Ausschlag gegeben zu haben, dass sie sich im die Ausbildung abschließenden Kolloquium, einer Art fachliches Gespräch, gut geschlagen hat.
Kitas dürfen sich nicht austauschen
Die fehlende Eignung für den Beruf soll auch in Tönisvorst aufgefallen sein. Dort arbeitete Sandra M. vor ihrer Einstellung in Viersen zwischen dem 9. September und dem 30. November 2019, kam aber nicht über die Probezeit hinaus.
„Die Kitas dürfen sich nicht untereinander austauschen“, sagt Waltraud Weegmann, die Bundesvorsitzende des Deutschen Kitaverbandes. Arbeitgeber, so Weegmann, dürften „nicht einmal ansatzweise“ im Zeugnis erwähnen, wenn eine Erzieherin beispielsweise wegen mangelnder Empathie auffalle. Eine Überprüfung der Vergangenheit von Bewerbern ist für die Leitung von Kindertagesstätten schlicht nicht möglich.
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So hatte auch die Stadt Viersen „keinerlei Anhaltspunkte für Bedenken“, als sie Sandra M. ab dem 1. Januar 2020 in der Kindertagesstätte „Steingarten“ einstellte, heißt es bei der Pressestelle. Bedenken stellten sich auch nicht in den Personalgesprächen ein, die „in dichter Folge“ mit der jetzt des heimtückischen Mordes verdächtigen Frau abgehalten wurden.
In Viersen war auch nicht bekannt, was die Ermittler zu Tage trugen: Dass es in allen vorherigen Arbeitsstätten der jungen Frau, in Krefeld, Kempen und Tönisvorst Zwischenfälle mit Kindern gegeben hatte. In allen drei Kitas mussten Kleinkinder mit dem Notarzt ins Krankenhaus gebracht werden, mal mit Atemstillstand, mal mit Krampfanfällen. Immer war Sandra M. anwesend.
Nirgendwo wurden Jugendämter hellhörig
Nirgendwo notierten Ärzte Auffälligkeiten, nirgendwo wurden Mitarbeiter der Jugendämter hellhörig, an die solche Zwischenfälle gemeldet werden müssen. „Es kommt leider immer wieder zu Vorfällen, bei denen ein Notarzteinsatz erfolgt“, so ein Sprecher der Stadt Kempen, wo die Mordverdächtige zwischen August 2018 und Juli 2019 arbeitete.
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„Keiner der Vorfälle wurde von den Trägern als meldepflichtiges Ereignis eingeordnet“, teilt das Landesjugendamt mit. Das nordrhein-westfälische Familienministerium will das nicht auf sich beruhen lassen. Die Vorfälle müssten „gründlich und umfassend“ aufgeklärt werden. Sollten sich die Vorwürfe gegen Sandra M. bewahrheiten, müsse der Frage nachgegangen werden, ob „ernsthafte Frühwarnzeichen“ ignoriert und die Vorfälle dem zuständigen Landesjugendamt nicht gemeldet wurden.
Die kleine Greta wurde am 21. April ins Krankenhaus eingeliefert. Tags darauf hatte Sandra M. ihren letzten Arbeitstag in Viersen. Sie hatte sich einmal mehr eine neue Arbeitsstelle gesucht. Diesmal im Kreis Kleve. Dort hatte sie aber wegen der Corona-Krise noch nicht angefangen. Am 19. Mai wurde sie verhaftet.