Niederlande. Warum wütet das Coronavirus in den Niederlanden viel heftiger als in NRW? Ein deutscher Mikrobiologe, der in Groningen arbeitet, hat Antworten.

Alex Friedrich, Mikrobiologe aus Groningen, nennt es "den perfekten Sturm" - eine tödliche Mischung mehrerer Faktoren hat dazu geführt, dass einige Provinzen der Niederlande zu den in Europa am schwersten vom Corona-Virus getroffenen Regionen gehört. Allein in der Provinz Brabant - 2,5 Millionen Einwohner, hat das Virus schon mehr als 700 Todesopfer gefordert. Auch Limburg und Südholland sind schwer getroffen.

„Die Kombination von Rückkehrern aus dem Skiurlaub ausgerechnet in die Karnevalsregionen – dadurch kam es zu diesem perfekten Sturm“, sagt Prof. Friedrich, der aus Nürnberg stammt und lange in Münster forschte und lehrte - und jetzt in Groningen nur indirekt etwas vom Virus mitbekommt: Das dortige Klinikum verzeichnete die ersten Fälle, als es Intensivpatienten aus Brabant aufnehmen musste.

Direkt aus den Skiferien ging es ans Karneval feiern

Die mittleren und südlichen Provinzen der Niederlande hatten eine Woche später als der Norden ihre „Voorjaarsvakantie“, eine Ferienwoche, auch schon mal Krokusferien genannt, die die Niederländer gern zum Skifahren vor allem in Norditalien und Österreich nutzen. Und diese eine Woche machte dort einen Riesenunterschied, was die Virusverbreitung in den dortigen Dörfern und Skigebieten anging. Direkt aus den Ferien ging es in vor allem in den katholischen Landesteilen ans Karneval feiern – eine solche Feier führte ja bekanntlich auch in Heinsberg zur großräumigen Verteilung des Virus.

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Die Folgen wurden in den Wochen darauf sichtbar: Mittlerweile zählt allein die Provinz Brabant ähnlich viele Corona-Tote wie NRW. In den Niederlanden insgesamt sind es mittlerweile deutlich über 3000 Corona-Opfer - bei einer ähnlichen Bevölkerungszahl wie die in NRW. „Es kam häufig hinzu, dass sehr viele Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen betroffen waren, oft ohne selbst klare Symptome zu haben“, so Friedrich. Kliniken seien quasi zu „Turbinen der Epidemie“ geworden.

Kliniken wurden selbst zu "Turbinen der Epidemie"

Ein schwerer Schlag für die Niederlande, die sonst auf ihr Keimmanagement in Kliniken zu recht Stolz sind und deutlich weniger Probleme mit Krankenhausinfektionen haben als Deutschland. Doch während die Patienten sehr gut kontrolliert werden, kamen infizierte Mitarbeiter ins Haus. „Die haben das zum Teil an 20, 30 Menschen weitergeben können.“

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Hinzu kommt: In den Niederlanden wurde weitaus weniger getestet. Der öffentliche Gesundheitsdienst der Niederlande ist personell deutlich schwächer aufgestellt als hierzulande, die Zahl der Tests war weitaus niedriger. Zudem gibt es deutlich weniger niedergelassene Ärzte. Mittlerweile, so Friedrich, erwägt man sogar Personal der niederländischen Fluggesellschaft KLM für mehr Tests zu rekrutieren. Die Flieger sind eh weitgehend am Boden und mit Menschen umgehen können sie.

„Normalerweise geht man davon aus, dass man bei einer Positiv-Quote von zehn Prozent genug testet“, so Friedrich, dies sei auch die Empfehlung der WHO. Hat man weniger positive Tests, sucht man an der falschen Stelle. Hat man mehr positive Tests, so kann man sicher sein, dass man noch keinen Überblick hat. In den Niederlanden jedoch war zeitweise jeder dritte Test positiv – weil fast nur Schwerkranke getestet wurden. Das erklärt die vermeintlich deutlich höhere Sterblichkeitsquote der Infizierten.

Dass die Deutschen geholfen haben, wurde aufmerksam registriert

Schon seit einigen Wochen werden deswegen beatmungspflichtige Patienten quer übers Land verteilt. Das hocheffiziente Gesundheitssystem der Niederlande kommt normalerweise mit 1250 Intensivbetten aus – in NRW waren es schon vor Corona mehr als 6000. Folge: Die Niederländer mussten ihre Patienten aus den überlasteten Provinzen im ganzen Land verteilen. Eine Zentrale bei Utrecht sorgt dafür, dass die Intensivpatienten übers Land verteilt werden – schon Ende März kamen in Groningen die ersten Patienten aus Brabant an.

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„Dass der deutsche Nachbar schnell und unbürokratisch geholfen hat, wurde hier sehr aufmerksam registriert“ berichtet Friedrich. Mittlerweile geht die Zahl der Patienten an den Beatmungsgeräten wieder leicht zurück – doch die Stationen sind immer fast voll belegt. Dabei wird in den Niederlanden meist sehr viel kritischer abgewogen, ob und mit welcher Lebensqualität ein beatmeter Patient wieder entlassen werden kann. „In den Niederlanden sagen die Patienten eher Nein zur Beatmung“, so Friedrich.

Ausgerechnet Brabant hofft, als erstes den Lockdown aufheben zu können

Mitte März machte zudem der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte mit einer Formulierung zum Thema „Herdenimmunität“ von sich reden – der möglichst schnellen Durchseuchung der Bevölkerung mit anschließender Immunität. Doch dies, so Friedrich, war ein Kommunikationsversagen: Schon tags drauf stellte das Regierung klar: Auch die Niederlande gehen in einen Lockdown, der sich von den Maßnahmen in NRW nur marginal unterscheidet. Und so wird im Nachbarland wie bei uns mittlerweile rege diskutiert, wie mögliche Lockerungen aussehen können.

Eine mögliche Strategie: Die zwölf Provinzen kehren nacheinander zu einem weitgehend normalen Leben zurück – und die Kliniken im ganzen Land fangen dann die Krankheitswelle ab. Ausgerechnet das schwer getroffene Brabant macht sich dabei große Hoffnungen, am 2. Mai als erste den Lockdown aufheben zu dürfen. Weil hier die Durchseuchung schon am weitesten fortgeschritten ist...