An Rhein und Ruhr. NRW hat die Regeln für die Notbetreuung gelockert. Erzieher fühlen sich nicht ausreichend geschützt. Kinderärzte warnen vor Infektionsketten.

Nachdem die Landesregierung am vergangenen Wochenende verfügt hat, dass nun mehr Eltern in der Coronakrise einen Anspruch auf eine Kinderbetreuung haben, befürchten Erzieherinnen und Erzieher, dass sie nicht ausreichend geschützt sein werden. Sie starteten eine Online-Petition, in der sie mehr Schutzmaßnahmen fordern. Auch Kinderärzte sehen die Lockerung der Notbetreuung kritisch.

„Nachdem am Freitag der Erlass zu den Schlüsselpersonen geändert worden ist, werden wir nun eine größere Anzahl von Kindern zu betreuen haben. Ein Schutz für Erzieher ist daher kaum gegeben“, ist in der Online-Petition zu lesen. Bis Dienstagnachmittag haben fast 56.000 Unterstützer die Petition unterschrieben.

„Auch Erzieher haben pflegebedürftige Angehörige, die sie betreuen und diese sind durch die neue Regelung einer erhöhten Gefahr ausgesetzt. Selbst Kassiererinnen werden jetzt durch Plexiglas-Scheiben, Mundschutz und Handschuhe geschützt“, heißt es dort weiter. Die Unterstützer fordern, dass Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) den Erlass von Freitag überdenkt. Das Land solle „Schutzmaßnahmen ergreifen, die auch die Gesundheit der Erzieher in Nordrhein-Westfalen schützt.“

Betreuung auch am Wochenende

Die Erlass-Erweiterung sieht vor, dass nun auch Kinder betreut werden können, wenn nur ein Elternteil in einem systemrelevanten Beruf arbeitet. Vorher mussten beide Elternteile nachweisen, dass sie unabkömmlich sind. Zudem gibt es nun auch die Möglichkeit, Kinder am Wochenende notbetreuen zu lassen.

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Von Jan Jessen, Denise Ludwig, Simon Gerich und Stephan Hermsen

„Diese Entscheidung hat sich die Landesregierung nicht leicht gemacht“, teilt ein Sprecher des NRW-Familienministeriums auf NRZ-Anfrage mit. „Es galt abzuwägen, dass zunehmend Hilferufe, insbesondere aus dem Gesundheits- und Pflege-, aber auch aus anderen Bereichen, an uns herangetragen wurden. Vor Ort wird dringend Personal benötigt, um die notwreitung des Coronavirus zu verlangsamen.“ Eltern seien nach wie vor aufgefordert, aus Infektionsschutzgründen die Inanspruchnahme dieser Neuregelung auf „das unbedingt erforderliche Maß zu beschränken“.

Die Neuregelung, die am 20. März vom Land veröffentlicht worden ist, hat auch die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in NRW überrascht. Viele Erzieherinnen hätten aus den Medien über die Erweiterung des Erlasses erfahren, die Einrichtungen hätten sich nicht vorbereiten können, meint Sabine Uhlenkott, Fachbereichsleiterin für die Gemeinden bei Verdi in NRW. Die Ausweitung der Notbetreuung löse bei Erzieherinnen durchaus Ängste und Sorgen aus.

Coronakrise: Verdi kritisiert Durchmischung von Gruppen

„Diese nehmen wir sehr ernst“, erklärt ein Ministeriumssprecher. Die Landesregierung stehe im Austausch mit den Trägern mit dem Ziel, die Träger in ihrer Fürsorgeverantwortung gegenüber den Personen in der Kindertagesbetreuung und das Vertrauen der Beschäftigten zu stärken. „Die Erzieherinnen und Erzieher sowie Kindertagespflegepersonen leisten in dieser sehr schwierigen Zeit einen unglaublich wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft. Sie halten den Menschen, die in der kritischen Infrastruktur arbeiten, den Rücken frei“, so der Sprecher.

Zum Wochenbeginn habe es die Befürchtung gegeben, dass die Kindertagesstätten so voll wie normal werden würden. Dieser Eindruck habe sich nicht flächendeckend bestätigt, sagte Uhlenkott von Verdi. Sie sieht es allerdings kritisch, dass eine neue Durchmischung der Gruppen stattfindet. Damit steige auch das Infektionsrisiko wieder an.

Verdi: Nicht genug Atemschutzmasken verfügbar

Grundsätzlich, so erklärt ein Ministeriumssprecher, sei eine Zusammenlegung von Gruppen und damit eine Mischung unzulässig. Die Landesregierung und die Kommunalen Spitzenverbände haben verabredet, dass sie in gemeinsamer Verantwortung die vollständige Weiterfinanzierung der Kindertageseinrichtungen, der Kindertagespflege und der Ganztagsangebote in den Schulen unabhängig von der konkreten Inanspruchnahme zu sichern.

Verdi bemerkt allerdings, dass es auch hier an Schutzausrüstung fehle. Es stünden nicht genug Atemschutzmasken zur Verfügung, zum Teil neige sich das Desinfektionsmittel dem Ende zu. Beim Wickeln der zu betreuenden Kinder benutzen die Erzieherinnen seit eh und je Handschuhe.

Städte: Mundschutz hilft nicht weiter

Ideal wäre eine Gruppengröße von maximal fünf Kindern pro Raum, schätzt Uhlenkott. Anhand einiger Rückmeldungen weiß sie, dass es geht – zum Beispiel in Bielefeld. Aber in ganz vielen Einrichtungen, vor allem in den Ballungsgebieten, funktioniere das eben nicht.

In Oberhausen sei über den Einsatz von Schutzkleidung und Mundschutz nachgedacht worden. Hier kamen die Verantwortlichen wie auch in Mülheim jedoch zu dem Schluss, dass dies lediglich bei direktem Kontakt zu Corona-Erkrankten in der medizinischen Versorgung und der Pflege erforderlich sei, geben die Stadtsprecher auf Nachfrage der Redaktion an. Der Mundschutz sollte also nicht von Gesunden, sondern eher von den Erkrankten getragen werden, um eine Weiterverbreitung zu reduzieren.

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„Da bestätigte Fälle unter strenge Quarantäne gestellt werden, ist mit derartigen Situationen in der Kindernotfallbetreuung nicht zu rechnen“, meint ein Sprecher der Stadt Oberhausen. Das Gesundheitsamt in Mülheim weist erneut darauf hin, dass insbesondere das Einhalten der Husten- und Nies-Etikette sowie gute Händehygiene am wirksamsten vor einer Übertragung des Virus schützen.

Kinderärztin: Das ist "infektiologisch verantwortungslos"

In Oberhausen gab es am Dienstag bislang zwei Anfragen, ob Kinder auch am Wochenende betreut werden können. Insgesamt befinden sich in Oberhausen 126 Kinder in der Notfallbetreuung, in Mülheim sind es 139 Kinder. In den 32 Kitas der Stadt und der anderen Träger in Dinslaken waren am Montag 39 Kinder in der Notbetreuung. Pro Einrichtung sind es maximal sieben Kinder. Die tatsächlich betreuten Kinder liegt unter den gemeldeten Bedarfen, erläutert ein Stadtsprecher.

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Kinderärzte sehen die Ausweitung der Notfallversorgung kritisch. „Gleichzeitig zum Einführen einer Kontaktsperre die Regeln für die Kinderbetreuung aufzuweichen halte ich für infektiologisch verantwortungslos“, sagte Christiane Thiele, Vorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in NRW, der NRZ. Durch eine Ausweitung der Betreuung in den Kitas riskiere man neue Infektionsketten. Sie schlägt vor: In dieser akuten Krise könnte der Staat Ausgleiche für Männer schaffen, „die mehr verdienen als ihre Frauen und trotzdem zu Hause bleiben müssen, weil die Frau im systemrelevanten Beruf arbeitet, der Mann aber nicht“.

>>>Info:

Nicht alle Erzieherinnen arbeiten vor Ort in der Notbetreuung. Erzieherinnen, die zur Risikogruppe – also über 60 Jahre oder mit Vorerkrankungen – zählen, dürfen zum Teil auch von zuhause aus arbeiten. Sie beschäftigen sich beispielsweise mit Dokumentationen, dem Erstellen von Berichten oder mit konzeptionellen Aufgaben, erläutert Sabine Uhlenkott.