Geldern. Dr. Katharina Ketteler hat die Kinderschutzambulanz in Geldern mitaufgebaut. Doch beim Kinderschutz gibt es aus ihrer Sicht noch vieles zu tun.

Wenn Kinder zum Opfer werden, bekommt selbst eine so erfahrene Kinderärztin wie Dr. Katharina Ketteler manchmal noch eine Gänsehaut. Die 46-Jährige beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit dem Thema, ist zertifizierte Kinderschutzärztin und hat vor einem Jahr im Gelderner St.-Clemens-Hospital die erste Kinderschutzambulanz für den Kreis Kleve mitaufgebaut. Ein Schritt in die richtige Richtung, doch zu tun gibt es aus ihrer Sicht noch einiges. Gesellschaftlich und politisch.

Wieso ist die Kinderschutzambulanz in Geldern ins Leben gerufen worden?

Wir alle wissen, dass es unzählige Fälle von Kindeswohlgefährdung gibt. Die Herausforderung aber ist es, diese Fälle auch zu erkennen. Sobald man eine Ambulanz installiert hat und Netzwerke entstehen, ist es wirklich faszinierend, wie die Fallzahlen in die Höhe schießen. Aus diesem Grund wollte der neue Chef der Kinderklinik in Geldern, Dr. Karsten Thiel, auch eine Kinderschutzambulanz für den Kreis Kleve einrichten und hat mich gefragt, ob ich die ärztliche Leitung übernehmen möchte. Da Kinderschutz mein Herzblutthema ist, habe ich das gerne gemacht.

Und Ihr Fazit nach einem Jahr?

Die Kinderschutzambulanz und die dazugehörige Baby-Kleinkind-Elternberatung sind sehr gut angelaufen. Es kommen wöchentlich neue Fälle hinzu. Und das ist trotzdem immer nur die Spitze des Eisbergs.

Wie alt sind die Kinder, die zu Ihnen kommen?

Wir betreuen Fälle zwischen 0 und 18 Jahren. Besonders gefährdet sind dabei Kinder zwischen sechs und zwölf Monaten, da diese nicht mehr so ruhig sind wie jüngere Babys, ihre Bedürfnisse schon deutlicher zum Ausdruck bringen und trotzdem noch sehr verletzlich sind. Das ist eine gefährliche Konstellation, gerade hinsichtlich eines Schütteltraumas. Das Risiko steigt bei belastender familiärer Situation, denn das Hauptproblemfeld bei Kindeswohlgefährdung ist leider das familiäre Umfeld, nur selten Fremde.

Mit welchen Fällen haben Sie besonders häufig zu tun?

Zunächst einmal ist es wichtig, Kindeswohlgefährdung zu definieren. Es gibt dabei drei Hauptgruppen: Am häufigsten tritt Vernachlässigung auf, die bei mangelnder Obhut beginnt und bis zur vollständigen Verwahrlosung führen kann. Dann gibt es noch die körperlichen und emotionalen Misshandlungen sowie die sexuelle Gewalt. Bei uns in der Kinderschutzambulanz haben wir bisher erschreckend viele Fälle von sexueller Gewalt. Denn zu glauben, ländliche Bereiche wären in Hinblick auf Kindeswohlgefährdung im Vergleich zu größeren Städten weniger gefährdet, ist ein Irrtum.

Was sind typische Anzeichen für Kindeswohlgefährdung?

Hier gibt es verschiedene Aspekte, so zum Beispiel die Lokalisation von Verletzungen. Verletzungen sind verdächtig, wenn sie nicht die typischen Spielverletzungen wie blaue Flecken an den Knien oder eine Schramme am Kinn sind. Das könnten zum Beispiel Verletzungen am Gesäß, an den Oberschenkeln, am Bauch, an den Augenhöhlen oder um den Mund herum sein. Wenn die Verletzungen unterschiedlichen Alters sind, werde ich ebenfalls hellhörig. Und dann stellt sich die Frage: Passen die Verletzungen zu den Schilderungen vom Unfallhergang und zum Entwicklungsstand des Kindes? Verdächtig ist auch ein verzögerter Arztbesuch. Wenn ein Kind einen Unfall hatte, gehen Eltern sofort zum Arzt. Auch im Falle einer Misshandlung machen sich Eltern im Verlauf oft Sorgen, wenn sie die Verletzungen sehen. Doch in diesem Fall wird der Arzt meist erst verspätet aufgesucht.

Der Missbrauchsfall in Lügde hat schockiert und immer wieder stellt sich folgende Frage: Schauen Erzieher, Lehrer, Ärzte und Jugendämter zu oft weg?

Gerade von Kindergärten, Schulen und ärztlichen Kollegen bekommen wir in den letzten Jahren viele Fragen und Rückmeldungen. Dort ist die Aufmerksamkeit bereits im großen Maße gestiegen. Bei den Jugendämtern ohnehin. Ich glaube aber, im Laienbereich wird noch extrem viel weggeguckt. Wenn irgendwo ein Kind regelmäßig misshandelt wird, müsste es das Umfeld häufiger mitbekommen und Hilfe einfordern. Die Zivilcourage ist in vielen Teilen der Bevölkerung noch verbesserungswürdig.

Wie stellen Sie den ersten Kontakt zu einem womöglich zutiefst verängstigten oder traumatisiertem Kind her?

Im großen Teil der Fälle nehmen wir die Kinder stationär auf, um sie erst einmal aus der Schusslinie zu nehmen. Wir wissen ja oft zunächst nicht, was genau passiert ist. In einem ruhigen, kindgerecht eingerichteten Raum setzen wir uns dann erst einmal zusammen. Wichtig ist dabei vor allem, dass man keinen Druck ausübt und das Kind nicht retraumatisiert.

Wie geht es dann weiter?

Wir haben ein interdisziplinäres Team aus verschiedenen medizinischen Fachrichtungen und Kinder-Psychologen/-Psychiatern. Wie lange eine Behandlung dauert, lässt sich pauschal aber nicht sagen. Das hängt davon ab, wie schnell sich die Situation und eine mögliche Täterfrage klären lässt. In vielen Fällen wird das Jugendamt hinzugezogen, das auch entscheidet, ob das Kind in Obhut genommen werden muss und wenn ja, wo eine sichere Unterbringung möglich ist.

Kann es für die Betroffenen irgendwann auch wieder so etwas wie Normalität geben?

Solche Erlebnisse haben natürlich große Auswirkungen auf das Erwachsenenleben. Angststörungen und Depressionen sind als Folgen nicht selten und leider kommt es auch immer wieder zu der schwer vorstellbaren Situation, dass Opfer später zu Tätern werden, da sie bestimmt Muster erlernt haben. Deshalb ist die therapeutische Behandlung so wichtig, um genau so eine Entwicklung zu vermeiden. Es gibt aber auf jeden Fall Hoffnung.

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Was muss sich aus Ihrer Sicht gesellschaftlich, aber auch politisch in Sachen Kinderschutz ändern?

Ein Hauptproblem ist immer noch die mangelnde Bedeutung des medizinischen Kinderschutzes. Wenn alle kindlichen Krebsfälle, angeborenen Herzfehler und Diabetesfälle zusammengenommen werden, sind das immer noch nicht so viele wie Kinderschutzfälle. Ersteres ist natürlich auch super wichtig, aber die Lobby ist viel größer als die für den Kinderschutz. Zwar hat sich insbesondere mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz schon vieles zum Positiven geändert. Trotzdem gibt es immer noch offene Felder, vor allem fehlende Netzwerke und mangelndes Wissen. Beispielsweise ist vielen Ärzten nicht bewusst, dass 90 bis 95 Prozent der kindlichen und jugendlichen Opfer sexueller Gewalt körperliche Normalbefunde aufweisen. Und auch ein Jungfernhäutchen kann heilen. Wir brauchen also eine ordentliche Ausbildung und eine offizielle Weiterbildung für Kinderschutz. Dieser darf nicht länger als Hobby angesehen werden.

>>> Kontakt zur Kinderschutzambulanz

Die Kinderschutzambulanz im St.-Clemens-Hospital ist erreichbar über das Sekretariat der Klinik für Kinder und Jugendliche 02831/3901802 oder 02831/3901804 sowie per E-Mail an Kinderklinik@clemens-hospital.de.

Für Notfälle gibt es folgende Rufnummer: 0151/14389462.