An Rhein und Ruhr. Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes lässt viele Behinderte und Betreuer verzweifeln – vor allem an der Bürokratie. Gelder fließen verspätet.
Die Verzweiflung der alten Dame war groß: Mit einem Stapel Papierkram stand die rechtliche Betreuerin und Schwester eines Bewohners des Krefelder Viktorheimes im Büro von Monika Brands, einer der Geschäftsführerinnen des „Förderverein Freizeit Behinderter e.V.“ (FFB), und sagte: „In diesem Stapel sind viele Tränen, ich kann nicht mehr.“
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Die über 70-Jährige verzweifelt an der Bürokratie, die die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) mit sich bringt. Ein Gesetz, das Menschen mit Behinderungen mehr Selbstbestimmung bringen soll. In NRW sind etwa 43.000 Menschen von der Gesetzesänderung betroffen. Doch die kurze Zeit, die allen Beteiligten für die praktische Umsetzung hatten, etwa ein halbes Jahr, hat viele Sorgen, Ängste und Unsicherheiten bei den betroffenen Menschen mit Handicap, den Trägern der Einrichtungen, den Betreuern und Angehörigen mit sich gebracht.
Wie die alte Dame haben viele rechtliche Betreuer im Herbst vergangenen Jahres einen Antrag auf Grundsicherung beim Sozialamt gestellt, Rückschreiben mit Bitten um die Einreichung weiterer Unterlagen beantwortet, einen Mietvertrag unterschrieben, ein Konto eröffnet und, und, und. Bislang wurde das Leben des Bruders der alten Dame in der Einrichtung über die Eingliederungshilfe des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) finanziert. Nun muss er aus der Grundsicherung die Miete für sein Zimmer und Geld für Sachleistungen wie Essen direkt an den Träger zahlen. Dies entspricht dem Inklusionsgedanken und klingt eigentlich schlüssig.
„Manche Bewohner haben auch ihr Taschengeld noch nicht bekommen“
Wie die alte Dame haben viele rechtliche Betreuer in den Wochen vor dem Inkrafttreten des BTHG zum 1. Januar, einen Antrag auf Grundsicherung beim Sozialamt gestellt, Rückschreiben mit Bitten um die Einreichung weiterer Unterlagen beantwortet, einen Mietvertrag unterschrieben, ein Konto eröffnet und, und, und.
Der Bruder der alten Dame, dessen Leben in der Einrichtung bislang über die Eingliederungshilfe des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) finanziert wurde, muss nun aus der Grundsicherung die Miete für sein Zimmer und eine Summe für Sachleistungen wie Essen direkt an den Träger zahlen. Dies entspricht dem Inklusionsgedanken und klingt eigentlich schlüssig.
Nur, da viele Sozialämter eine Flut von Anträgen bearbeiten mussten – etwa 45.000 Menschen sind in NRW betroffen – kamen die Gelder nicht überall pünktlich zum 1. Januar auf den Konten an. Befürchtet haben das viele Träger schon im Dezember. „Aber jetzt haben sich die Sorgen bewahrheitet“, sagt Thomas Müller, Fachreferent beim Paritätischen NRW für Wohnen für Menschen mit Behinderung/Rheinland. Die Träger hatten einigen Mehraufwand in den vergangenen Monaten zu bewältigen. „Der bürokratische Aufwand für die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes ist sehr hoch. Von Entlastung kann bisher keine Rede sein“, sagt Müller.
Noch immer fehlen Mietzahlungen
Noch immer haben viele Träger nicht alle Mieten auf ihren Konten. Doch: „Die Miete ist das eine, aber für manche Bewohner bedeutet das auch, dass sie ihr Taschengeld noch nicht bekommen haben“, sagt Monika Brands vom FFB. Dabei kündigte NRW-Gesundheits-, und Sozialminister Karl-Josef Laumann doch im Sommer an: „Auch das Sozialministerium wird sich dafür einsetzen, dass der Übergang reibungslos verläuft.“
Für die Umsetzung blieb den Trägern und Betreuern nur ein halbes Jahr
Worte, über die Monika Brands nur schmunzeln kann. Eigentlich sollte der Landesrahmenvertrag zur Umsetzung des BTHG im Oktober 2017 zwischen dem LVR, kommunalen Spitzenverbänden und NRW-Wohlfahrtsverbänden geschlossen werden. Letztlich wurde er im Sommer 2019 unterschrieben. Für die Umsetzung blieb nicht einmal ein halbes Jahr. Es wurde ein Kraftakt für alle Beteiligten.
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Monika Brands hat in kurzer Zeit viele Gespräche mit dem Steuerberater, Architekten, dem Rechtsanwalt geführt. „Wir mussten die Zimmer vermessen, Mietverträge vorbereiten und uns damit auseinandersetzen, Betriebskosten aufteilen, uns rechtlich absichern. Zuvor haben wir eine Pauschale vom Landschaftsverband für das Haus bekommen. Jetzt müssen wir schauen, wie wir beispielsweise die Gartenpflege umlegen können“, erzählt die FFB-Geschäftsführerin.
„Leute mit einem hohen Hilfebedarf kommen zurzeit zu kurz“
Das Problem sei: „Für Menschen, die eigengeschäftlich leben können, ist das Gesetz super. Aber Leute mit einem hohen Hilfebedarf kommen zurzeit zu kurz“, sagt Renate Franzen, ebenfalls Geschäftsführerin des FFB. Viele der rund 70 Bewohner bzw. jetzt Mieter in den besonderen Wohnformen des FFB „verstehen das alles nicht. Sie merken nur, es ändert sich was, haben Angst ein eigenes Konto zu haben und Sorge, dass die Betreuer nicht mehr da sind“, erzählt Saskia von Hagen, Leiterin des Viktorheimes.
Eine Erfahrung, die auch Josef Berg, Geschäftsführer vom Papillon e.V. in Kleve gemacht hat. Der Verein für sozialtherapeutische Angebote und Beratung im Kreis Kleve betreut betreut rund 500 Klienten, davon 74 Bewohner. „Das System als solches stellt keiner in Frage. Nur die Bedürfnisse sind eben verschieden“, sagt auch er.
„Raus aus einem Leben zwischen Whisky und Speed“
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Dies weiß auch Daniel. Er lebt seit dreieinhalb Jahren in einer von Papillon angebotenen besonderen Wohnform in Kleve. Für den 37-Jährigen war es der letzte Ausweg raus aus einem Leben, dass über Jahre von „Whisky und Speed“ bestimmt war. Erst mit 29 Jahren bekam Daniel die ADHS-Diagnose. Eine Therapie lehnte er ab. „Ich war nicht einsichtig, hatte eine totale Verweigerungshaltung“, erzählt der gelernte Buchhändler. Es waren schwierige Jahre. Das Verhältnis zu seinen Eltern wurde immer schwieriger. Das Leben in einer eigenen Wohnung „klappte nicht“. Irgendwann folgte ein dreimonatiger Klinikaufenthalt. Daniels Rettung. „Da bin ich clean geworden. Und es war schnell klar, dass ich nicht mehr in eigene Wohnung zurück kann.“ Die Suche nach einer geeigneten Einrichtung „war nicht einfach.“ Bei Papillon „hat man an mich geglaubt.“
Heute wohnt Daniel in einer betreuten Zweier-WG mit Max. Beide arbeiten in der Küche des Trägers, Daniel macht zudem Sport, Yoga und sagt von sich mit einem Lächeln: „Ich war der Vollassi. Jetzt bin ich der Vorzeigeklient. Ich rauche nicht, trinke nicht, habe auch kein Handy. Und: Mit meinen Eltern ist auch alles wieder gut. Einmal in der Woche bekomme ich ein Buch von meinem Vater geschenkt.“ Ein „Vorzeigeklient“, der bislang wie alle anderen Menschen mit einer psychischen Erkrankung, einem geistigen Handicap oder einer Mehrfachkörperbehinderung, die in einer Einrichtung leben, ein Taschengeld bekommen haben. Jetzt, mit dem neuen Bundesteilhabegesetz, fühlt sich Daniel „freier.“ Und auch Max freut sich, dass er eigenbestimmter rechnen kann. Für Daniel und Max ihn ist es kein Problem von der Grundsicherung die Miete und die Sachleistungen an den Träger zu überweisen.
„Man muss Geld für Kleidung zurücklegen, soweit denken aber nicht alle“
Beide wissen aber, dass es für andere ein Problem ist. „Man muss Geld für die Kleidung zurücklegen, kann nicht alles in Zigaretten stecken. Soweit denken aber nicht alle“, sagt Daniel. Max ist froh, dass er sich an die Betreuer im Hause wenden kann: „Ich muss mir viel aufschreiben. Ich brauche die Gespräche, die würden mir fehlen.“ Und nicht nur ihm. Daniel sagt: „Viele haben Angst, dass unsere Betreuer weg rationalisiert werden.“ Dabei ist das bei dieser Stufe der Umsetzung des BTHG noch kein Thema.
Es könnte aber eins werden – mit der nächsten Stufe: Denn in den kommenden drei Jahren werden auch die Assistenzen, die persönlichen individuellen Unterstützungen, neu geregelt. „Und das wird ein noch viel größerer Schritt“, sagt Michael Behrendt, Geschäftsführer der Lebenshilfe Kreis Viersen, die 200 Mieter in besonderen Wohnformen und 160 Mieter im ambulanten Wohnen betreut. Die fachlichen Leistungen, sprich die Begleitung der Menschen mit Handicap im Alltag, muss künftig personenzentriert beantragt und bewilligt werden. Das könne zu einer anderen Personalstruktur führen.
Die Umsetzung der jetzigen Stufe jetzt habe im Kreis Viersen gut funktioniert. Allerdings weiß auch Michael Behrendt von Einzelfällen zu berichten, „wo der Antrag auf Grundsicherung zunächst abgelehnt wurde, weil das Sozialamt angeblich nicht zuständig war“ und die Betroffenen noch auf eine Entscheidung warten. Klar sei, dass der rechtliche Aufwand der Betreuer höher wird, was bei einigen Angehörigen zur Überforderung führe, wie bei der alten Dame, wo viele Tränen auf das Papier flossen. Sie überlegt schweren Herzens, die Betreuung abzugeben.