An Rhein und Ruhr. Für die 250.000 Menschen mit Behinderung in NRW ist es ein Meilenstein: Sie bekommen ab Januar 2020 mehr Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten.
Es hatte etwas von einem Staatsvertrag wie da 15 Herren und drei Damen sich zum Gruppenbild vor drei Fahnen aufbauten, auf dem Tisch der Vertrag, der die Welt für die rund 250.000 Menschen mit Behinderung in NRW wenn nicht gerade auf den Kopf stellt, so doch gravierend verändert.
„Landesrahmenvertrag zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderung“ heißt das Ungetüm etwas sperrig. Ausgehandelt – und das bis zur letzten Minute – haben es die Landschaftsverbände mit Leistungsanbietern, Wohlfahrtsverbänden, Städten und Landkreisen unter Beteiligung der Selbsthilfeverbände. Am Ende soll das umfassende Vertragswerk den Menschen mit Behinderung mehr Selbstständigkeit verschaffen.
Stationäres Wohnen heißt künftig „Wohnen in besonderen Einrichtungen“
Deswegen kommt eine der gravierendsten Änderungen auf die Menschen zu, die (noch) in Heimen wohnen. Schon in den letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der Behinderten, die im ambulant betreuten Wohnen zuhause sind in NRW von 25 auf 60 Prozent erhöht. Behinderte leben in den eigenen vier Wänden, in Wohngruppen oder Hausgemeinschaften, so selbstständig wie möglich.
Die Leistungen, die sie zusätzlich brauchen, können und müssen sie zubuchen. Worauf sie Anspruch haben, regelt eine individuelle Hilfeplanung. Und genau diese Planung wird nun auch für die Menschen fällig, die in stationären Einrichtungen leben, die künftig nicht mehr stationäre Einrichtungen heißen, sondern „besondere Einrichtungen“.
Die Betreiber von Heimen für Behinderte müssen daher künftig die Vermietung von ihren übrigen Angeboten trennen, der Behinderte kann dann frei wählen.
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Recht deutlich machte das bei der Unterzeichnung der Verträge Anke Stuckmann-Scholl, die für die privat-gewerblichen Verbände, die Chancengleichheit für die privaten Anbieter wie in der Pflege auch forderte. Immerhin geht es um ein Volumen von rund 4,9 Milliarden Euro – und eine hochkomplexe Materie, so dass die Verhandlungen des Rahmenvertrags mehrfach ins Stocken gerieten.
Auch Ulrike Lubek, Präsidentin des Landschaftsverbandes Rheinland, sprach von einer immensen Herausforderung: „Für uns ist das die größte Reform seit Einführung der Pflegeversicherung.“ Befürchtungen, dass vor allem die Zuständigkeit für den Einsatz von Integrationshelfern im Kindergarten von Vereinen und Verbänden auf die Kindertageseinrichtungen selbst übergingen, erteilte sie eine Absage.
Beim Einsatz der Integrationshelfer in Kindergärten und Schule gebe es jetzt zumindest Mustervereinbarungen, die landesweit festschreiben sollen, was die Integrationsassistenten leisten sollen. Eine verbindliche Festschreibung der Bezahlung gibt es jedoch nicht – das regelt wie bislang jede Kommune mit den Trägern der Integrationshilfe.
Zwar mahnte Karl-Josef Laumann (CDU), Landesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, es dürfe kein neues Bürokratiemonster geschaffen werden. „Es ist immer der Spagat zwischen Selbstständigkeit und Sicherheit. Und Sicherheit braucht eben doch wieder Strukturen.“, So deutet sich schon jetzt an, dass der 200 Seiten starke Rahmenvertrag in vielen Fällen neue Anträge und Verträge nach sich zieht. Und klar ist auch, dass nicht alles klar ist. Eine gemeinsame Kommission soll nachsteueren, was nicht gut funktioniert. Allerdings hat man sich noch nicht geeinigt, wer in der Kommission sitzen soll...
Caritas: Möglichst zügig Anträge stellen
Die Tinte unter dem Rahmenvertrag war noch nicht trocken, da empfahl die Caritas im Ruhrbistum bereits: „Menschen mit Behinderungen, die bislang Sozialhilfe bezogen haben, müssen möglichst zügig bei ihrem zuständigen Sozialamt einen Antrag auf Grundsicherung stellen, damit sie im Januar 2020 nahtlos weiter Leistungen zum Lebensunterhalt beziehen können.“
Die größere Selbstständigkeit „begrüßen wir ausdrücklich“, stellt Caritas-Experte Roland Sobolewski heraus, „die umfangreichen Rechtsänderungen bieten viele Chancen und Möglichkeiten, stellen aber in der Phase der Umstellung des Gesetzes auch hohe Anforderungen an die leistungsberechtigten Menschen mit Behinderungen oder ihre rechtlichen Betreuer, an Leistungsträger und -anbieter.“
Am Rande der Unterzeichnung versuchte ein Beteiligter das Werk in die für und von Behinderten geforderte „leichte Sprache“ zu übersetzen. „Es ist im Grunde wie das Zahlenrätsel Sudoku: Je mehr Vorgaben man hat, desto leichter ist es. Wenn man nicht mehr weiter weiß, muss man experimentieren. Aber am Ende müssen die Zahlen stimmen.“