Köln. In Köln müssen sich Fahnder durch Datenberge wühlen. Was macht das mit Menschen, wenn man täglich mit so unfassbaren Taten konfrontiert wird?

Es ist ein Verfahren, von dem der Kölner Polizeipräsident Uwe Jacob sagt, er habe in seinen 45 Dienstjahren noch nichts Vergleichbares erlebt. Die Kindesmissbrauchs-Ermittlungen, die Ende Oktober ihren Anfang mit der Festnahme eines mutmaßlichen Kinderschänders in Bergisch Gladbach nahmen, weiten sich immer weiter aus.

Bis jetzt sind schon mehr als 30 Beschuldigte auch jenseits von NRW bekannt, Dutzende Opfer und ein Berg von Daten, den Menschen wie Manuela F. und Lisa W. (Namen der Red. bekannt) auswerten müssen.

200 Ermittler arbeiten bei der „Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Berg“

Polizeipräsidium Köln. Hier laufen die Fäden der Ermittlungen zusammen, hier ist der Sitz der „Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Berg“, in der über 200 Ermittler in NRW fieberhaft versuchen, Tätern auf die Spur zu kommen und weitere Missbrauchsfälle zu verhindern.

Es ist der Tag, nachdem im Kreis Wesel ein weiterer Mann festgenommen und in Untersuchungshaft gekommen ist, ein 61-Jähriger, dem vorgeworfen wird, die inzwischen erwachsene Tochter seiner Ex-Frau missbraucht zu haben, als sie zwischen 12 und 13 Jahre alt war. Er ist der neunte mutmaßliche Täter, gegen den in NRW ein Haftbefehl vollstreckt worden ist, acht sitzen noch in Untersuchungshaft. Zwei weitere Festnahmen gab es in Hessen und Rheinland-Pfalz. Die mutmaßlichen Täter sollen Kinder aus ihrem familiären Umfeld missbraucht, ihre Taten gefilmt und mit anderen geteilt haben. Das jüngste Opfer war gerade einmal 11 Monate.

Auf die Spur kamen die Ermittler dem massenhaften Missbrauch, als sie Ende Oktober einen Mann in Bergisch Gladbach festnahmen. Auf einem Handy fanden sie Chat-Gruppen mit bis zu 1800 Teilnehmern. Bislang haben die Ermittler 3300 Datenträger sichergestellt, Computer und Telefone.

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In Köln arbeiten sich die Kriminaloberkommissarinnen Manuela F. (34) und Lisa W. (33) mit sieben anderen Kollegen durch diese Datenmengen. Was macht das mit einem Menschen, wenn man täglich mit so unfassbaren Taten konfrontiert wird?

Konzentration auf technische Details

Die beiden modisch gekleideten, sportlichen jungen Frauen, die eine mit kurzen blonden Haaren, die andere mit langen brünetten, wirken gelöst, nicht, als würden sie von der Last ihrer Aufgabe niedergedrückt. Über Privates wollen sie nicht reden. Über ihre Arbeit schon. „Es macht es einfacher, wenn man einen sachlichen Filter darüber legt“, sagt W., „ich suche Hinweise, versuche mich auf technische Details zu konzentrieren, etwa auf Zeitstempel.“

Sie ermittelt seit drei Jahren im Bereich Kinderpornografie. Freiwillig, wie ihre Kollegin F. auch. Zu so einer Arbeit kann niemand gezwungen werden. Im Moment, sagt F., versuchen sie vor allem „Gefahrenüberhänge“ zu erkennen, Polizeideutsch dafür, dass Kinder noch aktuell missbraucht werden. „Wir wollen die Kinder aus dieser Situation befreien.“ Das ist jetzt in etlichen Fällen gelungen, ein Erfolg. „Diese Motivation ist zielführend.“ Sie blenden möglichst aus, was die Opfer erleiden. „Das würde es sehr schwer machen“, so die 34-Jährige.

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Die Arbeit der beiden gleicht derzeit einer Sisyphos-Aufgabe. Bei jedem Verdachtsfall, bei jeder Durchsuchung kommen neue Datenträger dazu, und damit Hinweise auf neue Täter.

Auf die Spur des 61-Jährigen sind die Beamten durch die Auswertung von Chats gekommen, die er mit einem anderen mutmaßlichen Täter, ebenfalls aus dem Kreis Wesel, geführt hat, der kurz nach Beginn der Ermittlungen festgenommen wurde. Das Verfahren zieht Kreise. „Ich befürchte, wir sind noch lange nicht am Gipfel angekommen“, schwant Kriminaldirektor Michael Esser, dem Chef der BAO.

Auch die Partnerinnen sind Opfer

Die mutmaßlichen Täter, sagt er, hätten meistens ein Doppelleben geführt, vermeintlich unbescholtene Bürger. Leute in Reihenhaussiedlungen, deren Partnerinnen von den Taten offenbar nichts mitbekommen haben. Auch diese Partnerinnen seien Opfer, sagt Esser, auch sie werden wie die Kinder betreut. Was den erfahrenen Ermittler mit den graumelierten kurzen Haare fassungslos macht, ist, dass manche der Kinder ihre festgenommenen Väter vermissen. „Es ist erschreckend“, sagt er, „was für ein Verhältnis manche der Opfer zu den mutmaßlichen Tätern aufgebaut haben. Sie hatten das Gefühl, der Missbrauch sei normal, die wissen gar nicht, was eine normale Kindheit ist.“

Irgendwann kann der Punkt kommen, an dem es nicht mehr weitergeht

Die Auswerterinnen W. und F. sagen, ihnen helfe das Team, in dem sie arbeiten. „Wir verstehen uns gut, wir sprechen darüber, wenn uns etwas belastet, das hilft. Man ist nicht allein“, sagt Lisa W. „Wir haben jederzeit die Möglichkeit, psychologisch geschultes Personal anzusprechen, es gibt Gruppengespräche und sportliche Aktivitäten“, berichtet Manuela F.. Natürlich, räumt ihre Kollegin W. ein, könne irgendwann der Punkt kommen, ausgelöst von einem bestimmten Bild, einem bestimmten Video, an dem es nicht mehr weitergehe. Aber noch nimmt sie die Arbeit nicht mit nach Hause. Noch schafft sie es, die Bilder zu verdrängen.

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Landesweit arbeiten Dutzende Auswerter wie die beiden Kölner Polizistinnen an dem Fall. „In anderen Behörden hat es schon Kollegen gegeben, die gesagt haben, dass sie nicht mehr können“, sagt Michael Esser. Wer es nicht mehr aushält, wird rausgezogen. Was das, was sie täglich ansehen müssen, auf Dauer mit seinen Beamten macht, darüber ist sich Esser noch nicht im Klaren. „Möglicherweise können Langzeitfolgen ein Problem werden“, ahnt er. W. und F. halten es noch aus. „Unsere Motivation ist sehr hoch“, sagt Lisa W., „wenn ich mal einen Tag frei hatte, habe ich ein schlechtes Gewissen gehabt. So komisch es auch klingt, ich mache diese Arbeit gerne, weil ich weiß, dass ich etwas Gutes tue.“

Die beiden Kriminaloberkommissarinnen werden wohl noch Wochen zu tun haben. „Wir sind noch lange nicht am Ende mit den Ermittlungen“, sagt der Kölner Polizeipräsident Jacob. „Wir haben längst noch nicht alle Daten gesichert.“