Am Niederrhein. Im Umgang mit Missbrauchsfällen findet der frühere Generalvikar des Bistums Münster, Werner Thissen, klare Worte. Und sieht Fehler auch bei sich.
Ein früherer Personalverantwortlicher des Bistums Münster, der mittlerweile emeritierte Hamburger Erzbischof Werner Thissen, hat im Umgang mit Fällen von sexuellen Missbrauchs persönliche Fehler eingeräumt. In einem Interview mit der Bistumszeitung „Kirche + Leben“, das an diesem Sonntag (10. November 2019) veröffentlicht wird, bekennt der gebürtige Klever sehr offen: „Ich hatte keine Vorstellung, was für ein Schaden bei einem jungen Menschen angerichtet wird durch Missbrauch.“
Das habe sich später geändert. Thissen hält sich selbst vor, dass er in seiner Münsteraner Zeit mit Missbrauchsopfern kaum Kontakt gehabt habe, und nennt das einen „großen Fehler“. Im Verhältnis zu den Tätern hingegen hätte es bei Personalverantwortlichen damals „einer größeren Distanz bedurft“: „Diejenigen, die des Missbrauchs beschuldigt wurden, waren ja Priester, die wir gut kannten. Da kommt sehr schnell der Mitleidseffekt auf“, sagt der heute 80-Jährige in dem Interview.
Fälle damals „schnell und gerne auf Therapeuten abgeschoben“
Vor seinem Wechsel an die Alster im Jahr 2003 trug Thissen gut 25 Jahre Personalverantwortung im Bistum Münster, zu dem auch weite Teile des Niederrheins gehören. Er war erst Hauptabteilungsleiter Seelsorge-Personal (und damit zuständig für den Priestereinsatz), dann Generalvikar und schließlich Weihbischof. Im Rückblick auf diese Zeit hält Thissen die damalige Personalkonferenz des Bistums für überfordert. Nicht nur dass Fachleute gefehlt hätten: „Es fehlten jegliche Standards für professioneller Personalführung“, meint Thissen ganz grundsätzlich in dem Interview.
Im Umgang mit Missbrauch habe man es sich aber auch leicht gemacht: Die Fälle habe man „schnell und gerne auf den Arzt und Therapeuten abgeschoben“. Irgendwann sei nach meist längerer Zeit der Therapeut gefragt worden, ob es jetzt wohl wieder möglich wäre, den betreffenden Priester in der normalen Pfarrseelsorge einzusetzen. Thissen hält sich selbst als weiteren schweren persönlichen Fehler vor, dass „mein Vertrauen in die medizinischen, therapeutischen Möglichkeiten überzogen und unrealistisch war“.
Bistum Münster stellt 1,3 Millionen Euro für weitere Studie bereit
Die Veröffentlichung des Interviews fällt in eine Zeit, in der das Bistum einen Fall aus Mitte der 80-er Jahre in Kevelaer noch einmal aufarbeitet. Dabei wurde am Mittwochabend bekannt, dass eine zweite Frau dort Opfer sexuellen Missbrauchs durch den Kaplan wurde. Das teilte der Interventionsbeauftragte des Bistums, Peter Frings, bei einem Gesprächsabend in der Pfarrei St. Marien mit. Die Frau, so Frings, habe sich am Dienstagabend bei den Ansprechpersonen des Bistums gemeldet. Sie möchte anonym bleiben. Der Missbrauch habe ebenfalls in den 1980er Jahren stattgefunden. Thissen trug damals Verantwortung im Bistum.
Im Gespräch mit der Bistumszeitung wird nicht explizit auf diese Fälle eingegangen, allgemein merkt Thissen aber an, dass sexueller Missbrauch in der Priesterausbildung wie in der Öffentlichkeit nur ein Randthema gewesen sei.
Das hat sich gewandelt. Für eine große bundesweite, im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie hatten Wissenschaftler Kirchenakten durchforstet. Für den Zeitraum 1946 bis 2015 ergab sie für das Bistum Münster Hinweise auf 138 Kleriker, die des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt wurden. Die Zahl der Betroffenen wird mit 450 angegeben. Das Bistum selbst hat ein fünfköpfiges Historiker-Team der Münsteraner Universität beauftragt, die Jahre 1945 bis 2018 noch einmal zu untersuchen. Den Wissenschaftlern wurde „maximale Unabhängigkeit“ zugesichert. Die 1,3 Mio Euro teure Studie startete vor wenigen Wochen am 1. Oktober. Ergebnisse sollen in zweieinhalb Jahren vorliegen.
Bischof Genn traf mehrfach Missbrauchsopfer
„Heute bemüht sich das Bistum Münster sehr, die Interessen der Betroffenen in den Mittelpunkt bei der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs zu stellen“, betonte ein Sprecher auf Nachfrage der Redaktion. Über zwei Ansprechpersonen halte man Kontakt. Der Anfang dieses Jahres bestellte Interventionsbeauftragte des Bistums, Peter Frings, ist Jurist, er koordiniere alle Maßnahmen – darunter auch die Einschaltung der Staatsanwaltschaft. Die Öffentlichkeit informiere man „so umfassend und transparent wie möglich“, so der Bistumssprecher. Grenzen setzten hier die Persönlichkeitsrechte und Wünsche der Betroffenen.
Bischof Felix Genn hat selbst mehrfach mit Missbrauchsopfern gesprochen. Genn begrüßte die Aussagen des früheren Personalverantwortlichen Werner Thissen und dessen Bekenntnis von Fehlern sehr: „Ich hoffe, dass das für Betroffene hilfreich und ein wichtiges Signal sein kann.“