Wesel. Apotheker klagen über Lieferengpässe bei Tabletten und Salben. Ein Pharmagroßhändler spricht von einer „neuen Dimension“. Ein Besuch vor Ort.

Egal wie weit Anne Schultz auf ihrem Bildschirm nach unten scrollt, einen grünen Einkaufswagen sucht sie vergeblich. Überall nur rote. „Aktuell ist nichts lieferbar“, sagt sie über den Tresen der Apotheke hinweg und blickt in das Gesicht eines ungläubig blickenden Kunden. Auch bei ihrer Kollegin Susanne Schmitz-Sackers, die direkt neben ihr steht, sieht es gerade schlecht es. „Das ist das erste Mal, dass ich das erlebe“, sagt der Kunde. Für Anne Schultz und ihre Kolleginnen in der Apotheke Büderich in Wesel ist es hingegen schon Alltag.

Denn bundesweit klagen Apotheker über Lieferengpässe bei bestimmten Medikamenten. Mehrere Hunderte Präparate seien betroffen, könnten kurz- oder sogar langfristig nicht zu Apotheken und somit den Patienten gelangen. Betroffen sind Pharmazeuten sowohl in großen Städten wie auch in kleineren Orten. So eben auch die Apotheke in Büderich von Michael Jilek. Der 69-Jährige ist Vollblut-Apotheker, führt das Geschäft seit 1977, erst als Pächter, seit 2007 in Eigenregie – Ruhestand noch nicht eingeplant. „Ich liebe meinen Beruf“, sagt Jilek, auch wenn ihn die aktuelle Situation mehr und mehr zur Verzweiflung treibt.

Apotheker müssen Vergleichsartikel suchen und den Arzt kontaktieren

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Denn für Jilek und seine Mitarbeiterinnen bedeuten die aktuellen Lieferengpässe bei vielen Medikamenten vor allem eins: Mehrarbeit. Ist ein verschriebenes Medikament nicht da, geht die Suche los: Ist das Präparat in einer anderen Packungsgröße da? Gibt es den Wirkstoff von einem anderen Hersteller? Und was sagt die entsprechende Krankenkasse? Hat diese mit dem Hersteller überhaupt einen Vertrag? Ansonsten wird das ganze Rezept nicht bezahlt. In vielen Fällen wird ein Anruf beim Großhändler fällig, oft auch beim verschreibenden Arzt. Der Mediziner muss informiert werden, in einigen Fällen ist seine Zustimmung und ein neues Rezept notwendig. „Die meisten Praxen kennen das Spielchen schon“, sagt Susanne Schmitz-Sackers, das sei der Vorteil auf dem Land.

Michael Jilek hat nachgerechnet: rund 15 bis 20 Arbeitsstunden binden die Suche und die Telefonate pro Woche. Zeit, die bei den Kunden letztlich fehlt: „Früher hatte man auch mal Zeit für ein Pläuschchen“, so Schmitz-Sackers, „das geht im Beschaffungswirrwarr heute leider unter.“ Um bei den umliegenden Praxen alte gegen neue Rezepte auszutauschen, hat Jilek eine Hilfskraft angestellt.

Apotheker schimpfen seit einem Jahr

Apotheken-Mitarbeiterin Susanne Schmitz-Sackers bereitet eine Hautsalbe zu.
Apotheken-Mitarbeiterin Susanne Schmitz-Sackers bereitet eine Hautsalbe zu. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Angefangen habe das Problem vor über zwei Jahren, sagt der Apotheker. Seit Frühjahr werde es dramatisch schlimmer. „Wir Apotheker schimpfen schon seit über einem Jahr, irgendwann kamen dann die Ärzte dazu, weil die von unseren Anrufen genervt waren.“ Teilweise würde sich der Lieferstatus von Präparaten im Stundentakt ändern, so Jilek. „Sie sind kurz lieferbar, dann wieder nicht.“ Betroffen sind Medikamente jeglicher Couleur: Blutdrucksenker, Mittel zur Behandlung von Schilddrüsen-Erkrankungen oder Epilepsie und selbst gewöhnliches Ibuprofen ist stellenweise knapp.

Aber nicht nur die Apotheken und Kunden sind davon betroffen, auch die großen Pharmahändler kriegen die Engpässe zu spüren. Die Essener Genossenschaft Noweda sieht vielfältige Ursachen für die aktuell schwierige Lage. So stelle die Bündelung der Produktion auf einige wenige Hersteller, die vorrangig in Indien und China produzieren lassen, ein großes Problem dar.

Falle eine Lieferung aus, habe das Auswirkungen auf den weltweiten Markt. „Wesentliche Gründe hierfür sind Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen, die Hersteller zu wirtschaftlichen Optimierungen zwingen.“ Der Ausfall beim Schmerzmittel Ibuprofen gehe etwa auf eine Produktion in den USA zurück, die 25 Prozent des Weltmarktbedarfes abdecke, so Noweda.

Rabattverträge der Krankenkassen in der Kritik

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Das sei auf die Rabattverträge der Krankenkassen zurückzuführen, sagt auch Apotheker Jilek. Die Kassen verhandeln mit den Herstellern, die günstigsten Anbieter erhalten den Zuschlag. Andere Unternehmen steigen in der Folge aus der Produktion aus.

So gehe die Zahl der Hersteller bei bestimmten Wirkstoffen zurück – mögliche Engpässe könnten nicht mehr durch den Markt aufgefangen werden, bestätigt auch der Pharmagroßhändler. So seien, wie Noweda erklärt, größere Lieferengpässe aus der Zeit vor der Einführung der Rabattverträge nicht bekannt.

Der Kunde ist der Leidtragende

Eine Lösung für das Problem ist derzeit nicht in Sicht. Michael Jilek könnte sich vorstellen, dass eine Regulierungsbehörde eine Verbesserung erreichen oder eine Preisbindung bei Medikamenten das System auflockern könnte. Hier sei auch die Bundesrepublik in der Pflicht: „Der Staat hat eine Entwicklung zugelassen, die es erlaubt, dass Krankenkassen Preise drücken dürfen und Firmen selektieren.“

Der Leidtragende ist am Ende der Kunde. „Dann nehme ich das Rezept wieder mit. Ist immerhin ein Monat gültig“, sagt der Mann, dem Anne Schultz nicht weiterhelfen konnte und marschiert aus der Apotheke. „Was soll ich machen“, sagt Schultz, „wenn nichts da ist, ist nichts da.“ Vielleicht ja für die nächste Kundin. Die Warteschlange ist ganz schön lang geworden.

>>>Lieferengpässe werden zu großem Ärgernis

Lieferengpässe bei Medikamenten ist mittlerweile eines der größten Ärgernisse von Apothekern. Im Apothekenklima-Index ist das Thema mit 91,2 Prozent auf Platz zwei vorgerückt. Größtes Ärgernis ist der bürokratische Aufwand. 92,6 Prozent nannten dies, so die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände.