Berlin. Auch verurteilte Mörder und Vergewaltiger dürfen den Bundestag wählen. Ein Strafrechtler erklärt, warum er das für richtig hält.

Am 23. Februar wird ein neuer Bundestag gewählt. Aber wie sieht es eigentlich bei den mehr als 43.000 Menschen in deutschen Gefängnissen aus: Dürfen sie wählen? Alexander Baur, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Georg-August-Universität Göttingen, gibt Antworten.

Wichtig zu wissen: Es wird zwischen dem aktiven und passiven Wahlrecht unterschieden. Das aktive Wahlrecht beinhaltet, dass Bürgerinnen und Bürger beispielsweise bei der Bundestagswahl 2025 ihre Stimme für einen Kandidaten und eine Partei abgeben können. Das passive Wahlrecht umfasst die Möglichkeit, in ein politisches Amt gewählt zu werden.

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Herr Baur, was muss ich „verbrechen“, damit ich nicht mehr wählen darf?

Alexander Baur: Es gibt eine Reihe von Straftatbeständen, die den Zweifel aufkommen lassen, dass jemand hinreichende Loyalität zum Gemeinwesen aufbringt. Das sind Straftaten, die sich gegen den Staat oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten – wie zum Beispiel Hochverrat, das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, die Preisgabe von Staatsgeheimnissen oder Wahlfälschung. Geregelt ist das in Paragraf 45 Strafgesetzbuch. Durch eine gerichtliche Entscheidung wird das Wahlrecht entzogen.

Die Liste politischer Straftaten, durch die Menschen ihr Wahlrecht in Deutschland verlieren können, ist lang: Wer den Staat verunglimpft oder den Bundespräsidenten beleidigt, Wahlen behindert, Abgeordnete bestechen will oder gar einen Angriffskrieg vorbereitet, dem kann dieses Recht abgesprochen werden. Wie häufig passiert das?

Baur: Ganz genaue Zahlen dazu erheben wir nicht. Was wir aber schon sagen können: Das ist selten. Es kommt fast nie vor.

Es ist leichter, sein passives Wahlrecht zu verlieren – also die Möglichkeit zu haben, beispielsweise in den Bundestag gewählt zu werden. Richtig?

Baur: Das stimmt – zumindest zeitweise. Nach Paragraf 45 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs verlieren Verurteilte beispielsweise automatisch ihr passives Wahlrecht für fünf Jahre, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Es muss sich bei der Straftat um ein Verbrechen handeln – also eine Straftat, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht ist. Zweitens muss man dann auch tatsächlich zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr – mit oder ohne Bewährung – verurteilt werden. Das können Verbrechen wie Raub, schwere Körperverletzung oder Totschlag sein. Abgesehen davon: Es wäre auch schwierig, sich um ein öffentliches Amt zu bewerben oder es auszuüben, wenn man hinter Schloss und Riegel sitzt.

Alexander Baur forscht zu Strafvollzugsrecht. Er ist Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Er findet es richtig, dass auch Straffällige an der Bundestagswahl 2025 teilnehmen dürfen.
Alexander Baur forscht zum Strafvollzugsrecht. Er ist Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Baur findet es richtig, dass auch Straffällige an der Bundestagswahl 2025 teilnehmen dürfen. © Christoph Mischke | Christoph Mischke

Einfach gesagt heißt das: Auch Räuber, Vergewaltiger oder sogar Mörder dürfen den Bundestag wählen – können aber nicht für Ämter kandidieren. Welche rechtliche Argumentation steckt dahinter?

Baur: Die Hürden, um Staatsbürgern das aktive Wahlrecht zu entziehen, liegen in Deutschland hoch. Das Wahlrecht ist das zentrale Teilhaberecht – das vornehmste Recht des Staatsbürgers. Gleichwohl könnte man vermutlich innerhalb der verfassungs- und menschenrechtlichen Grenzen häufiger zu einer Aberkennung des aktiven Wahlrechts kommen. Es gibt da durchaus auch rechtspolitischen Spielraum. Persönlich bin ich über die zurückhaltende Praxis sehr froh.

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Meine schwerste Entscheidung

Warum finden Sie es richtig, dass Straffällige wählen dürfen?

Baur: Aus meiner Sicht gibt es sehr gute Gründe dafür: In unserem Grundverständnis von Strafen und auch von Strafvollzug gehen wir davon aus, dass straffällig gewordene Menschen immer noch Mitbürger sind. Sie sind keine Feinde, die ihre Rechte an der Gefängnispforte abgeben und aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden.

Klar, das sind Menschen, die zum Teil schweres Unrecht begangen haben. Trotzdem sind sie nach unserem Verständnis Teil unseres Gemeinwesens und das bedeutet auch, dass sie daran teilhaben sollen. Unser Strafvollzug ist an Menschenwürde und Demokratie orientiert. Auch durch das aktive Wahlrecht verwirklicht sich ein Stück das. Das ist für uns als Gesellschaft wichtig, denn man muss schon sagen: Der Straftäter von heute ist der Nachbar von morgen – den sollten wir nicht unterwegs verlieren. Das Erhalten und Einüben demokratischer Prozesse ist ein Teil der Wiedereingliederung in die Gesellschaft.

Wir dürfen an der Stelle auch nicht vergessen: Die meisten Menschen im Strafvollzug sind nicht Mörder und Sexualstraftäter, sondern Menschen, die wegen Diebstahl, Betrugs, Körperverletzung oder Sachbeschädigung verurteilt worden sind. Auch das ist Unrecht. Bei vielen dieser Delikte geht es aber am Ende auch um soziale Fragen.

„Das Recht zu wählen ist kein Privileg“, hieß es beispielsweise in einer Entscheidung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Jahr 2005. In einer demokratischen Gesellschaft sei es ein grundlegendes Recht. In Ländern wie etwa den USA verlieren manche Straftäter für lange Zeit oder sogar dauerhaft ihr Wahlrecht. Wie bewerten Sie das?

Baur: Ich maße mir nicht so gerne an, andere Rechtssysteme zu bewerten. Das sind Entscheidungen und Haltungen, die auch mit der Rechtskultur eines Landes zu tun haben. Wir müssen übrigens gar nicht unbedingt über den Atlantik schauen. Es gibt auch europäische Länder, die wie wir unter die Europäische Menschenrechtskonvention fallen, aber verurteilten Straftätern das Wahlrecht sehr viel häufiger aberkennen.

Wie ist das mit dem geltenden Recht vereinbar?

Baur: Das lässt sich strafrechtstheoretisch durchaus begründen: Jede Straftat richtet sich immer auch gegen das Gemeinwesen. Straftäter haben gemeinsame Regeln verletzt und der Entzug des Wahlrechts ist dann eine Sanktion im Schlepptau der eigentlichen Strafe. Der EGMR versucht dort, Grenzen zu setzen. Da beobachten wir aber „Aushandlungsprozesse“ zwischen EGMR und einzelnen Vertragsstaaten, bei denen mir noch einiges in Bewegung scheint. Die alte, eher strikte Linie des EGMR, dass es keinen automatischen Wahlrechtsausschluss – keinen sogenannten „blanket ban“ – geben darf, wurde in den vergangenen Jahren der Sache nach schon aufgeweicht.

Ich persönlich, ich habe es schon gesagt, halte den Entzug des Wahlrechts, dieses hochsymbolische Ausschließen aus dem Gemeinwesen, rechtspolitisch für keinen guten Weg.

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Was wissen wir über das Wahlverhalten und die Wahlbeteiligung in deutschen Gefängnissen?

Baur: Wir wissen über das Wahlverhalten von Häftlingen sehr wenig. Generell gibt es über den Strafvollzug und die Lebensbedingungen dort ja viel zu wenige empirische Erhebungen. Man kann viele Hypothesen dazu haben, wie die politischen Einstellungen von Strafgefangenen sind und sich im Strafvollzug über die Zeit verändern. Das ist eine hochgradig spannende Frage: Wie wählen Menschen, die den härtesten Sanktionen eines Gemeinwesens ausgesetzt sind?

Klar ist: Menschen, die in deutschen Gefängnissen sitzen, stimmen in der Regel über die Briefwahl ab. Welche Hürden sind mit einer Wahl im Gefängnis verbunden?

Baur: Zunächst einmal muss die Möglichkeit zu geheimen Wahlen sichergestellt sein. Das ist rechtlich vorgegeben und wird gut umgesetzt. Anspruchsvoller sind die anderen Voraussetzungen einer Wahlentscheidung: Menschen im Strafvollzug haben bislang jedenfalls kaum Internet, gegebenenfalls reglementierten Fernseh- und Radioempfang, selten Geld für Tageszeitungen. Bei ihnen landet keine Wahlwerbung im Briefkasten und sie können auch nicht zu Wahlveranstaltungen gehen – all das sind ja die Grundlagen von Wahlentscheidungen. Der Strafvollzug hat die Aufgabe, diesen faktischen Einschränkungen des Partizipationsrechts so gut es geht entgegenzuwirken.