Berlin. Wahlkampfpatzer, Gelbhaar-Intrige: Beim Grünen-Parteitag überlagert die Debatte um Friedrich Merz und die AfD nach Aschaffenburg alles.
Die ersten Botschaften, die die Delegierten und Gäste der Grünen bei ihrem Parteitag begrüßen, wollen nicht so recht zusammenpassen. „Die stärkste Kraft im Land: Zuversicht“, steht draußen vor dem Konferenzzentrum an der Wand. Doch drinnen in der Halle erwartet die Parteimitglieder am Sonntagmorgen ein schwarzer Bildschirm: „Wir trauern um die Opfer von Aschaffenburg“, heißt es darauf schlicht in weißer Schrift. Das Treffen beginnt mit einer Schweigeminute.
Das Spannungsfeld, in dem sich die Grünen an diesem Sonntag wiederfinden, ist damit abgesteckt. Eigentlich wollten die Grünen bis zur Bundestagswahl auf optimistische, nach vorn gerichtete Botschaften setzen. Doch mit der Tötung eines zweijährigen Jungen und eines 41-jährigen Mannes in Aschaffenburg in der vergangenen Woche hat der Bundestagswahlkampf einen neuen, düsteren Ton bekommen, der auch am eintägigen Programmparteitag der Grünen in Berlin nicht vorbeigeht. Aschaffenburg und seine politischen Folgen dominieren den Parteitag.
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Die Zuversicht, die die Partei versucht hochzuhalten, speist sich aus den bisherigen Erfahrungen im Wahlkampf. 30.000 Menschen hätten seit dem Bruch der Ampel-Koalition Anfang November einen Mitgliedsantrag gestellt, sagte die politische Geschäftsführerin Pegah Edalatian, 8,3 Millionen Euro an Spenden seien eingegangen, mehr als vor der Wahl 2021. Grüne Wahlkämpfer berichten von guter Stimmung bei den Veranstaltungen im Land, von vollen Hallen. Auch in den Umfragen hatte die Partei zugelegt, statt bei 10 bis 11 Prozent stehen die Grünen inzwischen bei 13 bis 14 Prozent. Durch die Debatte um Sozialversicherungsbeiträge aus Kapitalerträgen und die mutmaßliche Intrige gegen den Pankower Direktkandidaten Stefan Gelbhaar hatte der Aufschwung zuletzt allerdings zwei merkliche Dämpfer bekommen.
Habeck: Möglichkeiten zu „zu kontrollieren, dingfest zu machen, gegebenenfalls abzuschieben“
Doch all das ist nach Aschaffenburg in den Hintergrund gerückt. Was dort passiert sei, sagt der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck in seiner Rede, das dürfe nicht ohne Folgen bleiben: „Wir brauchen ehrliche, harte Analyse, ob diese Tat hätte verhindert werden können.“
Es müsse überprüft werden, ob es Vollzugsdefizite gegeben habe, ob man die Gewaltbereitschaft hätte entdecken können, sagte Habeck. Und wenn ein solcher Fall entdeckt wird – gäbe es dann Möglichkeiten, die Täter „zu identifizieren, zu kontrollieren, dingfest zu machen, gegebenenfalls abzuschieben“? Alles das müsse auf den Tisch und dürfe nicht „weggewischt werden mit Wahlkampfrhetorik“.
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Die Reaktion der Union auf die tödliche Tat von Aschaffenburg kritisierte Habeck allerdings scharf. Deren Kanzlerkandidat und Parteichef Friedrich Merz hatte einen migrationspolitischen Fünf-Punkte-Plan vorgelegt und entsprechende Anträge zur Abstimmung im Bundestag angekündigt – „unabhängig davon, wer ihnen zustimmt“.
Habeck sieht darin eine Gefahr: „Nichts daran ist harmlos“, sagte der Vizekanzler über dieses Verhalten gegenüber der AfD. Die Gemeinsamkeit der demokratischen Parteien der Mitte müsse immer größer sein als die Nähe zu den rechtsradikalen Populisten, aber das werde gerade vergessen. „Das ist eine entscheidende Weiche in diesem Jahr, die nicht falsch gestellt werden darf.“ Habeck verknüpft die Situation in Deutschland auch mit der neuen Präsidentschaft Donald Trumps: Was es brauche, sei ein klares Signal, „dass wir uns den autoritären Kräften nicht unterwerfen werden“.
Die Mitte ist „leer“ – und die Grünen hoffen auf Raum für sich
Auch in anderen Reden wird Merz für die Offenheit der Union für Stimmen aus der AfD scharf kritisiert: „Herr Merz und die Union müssen jetzt unmissverständlich zeigen, wo sie stehen“, fordert etwa Parteichef Felix Banaszak.
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Bei den Delegierten stoßen die Redner damit auf große Zustimmung, Habecks Worte gehen zeitweise im Applaus unter.
Aber ob der Kandidat die Stimmung in der Wählerschaft genauso trifft, ist unklar. Die Grünen bauen darauf, dass Merz‘ Vorgehen auch außerhalb ihres eigenen Milieus für Entsetzen sorgt – und dass dieses Entsetzen die Menschen vielleicht zu den Grünen bringt. Die „Mitte“, die früher hinter der Union gestanden habe, die sei jetzt „leer“, sagte Habeck in seiner Rede. Ein möglicher Raum also, in dem sich die Grünen ausbreiten könnten – aber dieser Ansatz setzt voraus, dass die gesellschaftliche Mitte noch dort ist, wo die Grünen sie vermuten.
Und er setzt auch voraus, dass die Warnung vor der AfD und vor den Gefahren für die Demokratie tatsächlich Menschen an die Wahlurne und zu den Grünen bringt. Dabei war genau das eine der Lehren gewesen, die die Grünen nach den – aus Parteisicht enttäuschend bis miserabel verlaufenen – Wahlen des vergangenen Jahres gezogen hatten: Nur mit der Verteidigung der Demokratie zu werben reicht nicht.
Die Grünen-Strategie ist nicht ohne Risiko
Und auch auf der Sachebene ist diese Strategie nicht ohne Risiko, denn die Bundestagsanträge der Union betreffen mit Migration und Sicherheit zwei Themenbereiche, bei denen die Grünen nicht viel gewinnen können. Auf einen Wettbewerb um immer härtere Maßnahmen, immer schärfere Rhetorik kann und will die Partei sich nicht einlassen. Zudem müssen die Grünen den Tag nach der Wahl im Blick behalten: Scharf darf die Kritik an Merz und der Union durchaus sein – aber nicht so scharf, dass man danach nicht mehr miteinander reden kann. Ein Bündnis mit der Union ist nach aktuellem Stand die einzige Regierungsoption der Grünen.
Dazu passt, dass das beschlossene Wahlprogramm nicht wesentlich weiter links ist als der Entwurf von vor Weihnachten. Ein Antrag, ein angestrebtes Tempolimit von 120 Stundenkilometern auf der Autobahn festzuschreiben, wurde ebenso abgelehnt wie eine Abschaffung des Dienstwagenprivilegs, auch wenn die Partei hier eine Reform anstrebt. Nur an einer Stelle erlaubte sich die Basis ein bisschen Rebellion: Gegen den Willen des Parteivorstands findet sich seit diesem Sonntag im Wahlprogramm der Grünen die Forderung nach einem ganzjährigen Verkaufsverbot von Feuerwerk.