Athen. Erdogan lässt Kurdenpolitiker verfolgen und macht zugleich Friedensangebote. Das Kalkül: Er will die Verfassung ändern, zu seinen Gunsten.

Ahmet Türk, ein Urgestein der kurdischen Politikszene in der Türkei, hat Anfang November sein Amt als Oberbürgermeister der Stadt Mardin Türkei verloren. Aber großen Groll scheint der Politiker gegen jene, die seine Absetzung veranlasst haben, nicht zu hegen. Er sei „verblüfft“ gewesen, berichtete Türk nach einem Treffen mit Devlet Bahceli, dem Chef der ultranationalistischen MHP-Partei Anfang Januar – verblüfft darüber, wie „herzlich“ das Gespräch verlaufen sei. „Er meint es ehrlich“, sagte Türk über Bahceli. „Die Zeit ist reif für eine Lösung der Probleme zwischen Türken und Kurden.“ 

Ein kleines Wunder scheint sich anzubahnen: Bahceli, bisher ein Hardliner in der Kurdenpolitik, hat sich zum Friedensapostel gewandelt. Den seit 26 Jahren inhaftierten Führer der kurdischen Terrororganisation PKK Abdullah Öcalan, dessen Hinrichtung Bahceli bis vor kurzem forderte, will er nun begnadigen und ins Parlament einladen. Von einem Verbot der pro-kurdischen DEM-Partei, der auch Türk angehört, ist keine Rede mehr. 

PKK-Chef Öcalan ist noch immer die Schlüsselfigur

Bahceli ist der wichtigste Verbündete von Präsident Tayyip Erdogan. Es gilt als sicher, dass er seine Friedensoffensive mit Erdogan abgesprochen hat. Der Staatschef sprach denn auch sofort von einer „historischen Chance“, die sich nun biete, und von einem „offenen Fenster“ für die Lösung der Kurdenfrage. 

PKK Führer Abdullah Öcalan TUR gefesselt in einem Flugzeug mit türkischen Sicherheitskräften auf
PKK-Führer Abdullah Öcalan ist seit über 25 Jahren in türkischer Haft. Hier nach seiner Festnahme im Februar 1999.  © imago images / UPI Photo | IMAGO stock

Seit Öcalan 1984 die von ihm gegründete PKK zum bewaffneten Kampf für einen eigenen Kurdenstaat aufrief, sind in dem Konflikt mindestens 45.000 Menschen ums Leben gekommen. Jetzt könnte Öcalan eine Schlüsselrolle bei der friedlichen Lösung der Kurdenfrage spielen. Der 75-Jährige ist auch nach mehr als einem Vierteljahrhundert Einzelhaft auf der Gefängnisinsel Imrali für viele Kurden ein Idol. Die Zahl seiner Anhänger in der Kurdenregion geht in die Millionen. Wenn einer die PKK dazu bewegen kann, die Waffen niederzulegen, dann ist es Öcalan. Das haben auch Bahceli und Erdogan erkannt. 

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Sie fahren eine Doppelstrategie mit verteilten Rollen: Während Bahceli Friedensofferten unterbreitet, demonstriert Erdogan Härte. Acht kurdische Bürgermeister ließ er seit den Kommunalwahlen vor zehn Monaten bereits durch staatliche Zwangsverwalter ersetzen. Dutzende Kurdenpolitiker, Bürgerrechtler und Journalisten wurden in den vergangenen Monaten wegen angeblicher „Terrorverbindungen“ festgenommen. Und in Nordsyrien droht Erdogan den dortigen Kurdenmilizen mit einer Militäroperation: Man werde die „Terroristen mitsamt ihrer Waffen begraben“, kündigt Erdogan an. 

Erdogan will weitermachen: Verfassungsänderung für Wiederwahl notwendig

Erdogan hofft, mit dieser Doppelstrategie die PKK zu entwaffnen und die Kurden für sich zu gewinnen. Davon hängt für den türkischen Präsidenten viel ab. Im Mai 2028 endet seine Amtszeit. Die Verfassung verbietet eine Wiederwahl. Nur wenn das Parlament die Verfassung ändert oder sich vorzeitig auflöst, könnte Erdogan noch einmal antreten. Aber dafür braucht er die Unterstützung der pro-kurdischen DEM-Partei, die in der Nationalversammlung über 57 Mandate verfügt. Als Gegenleistung könnte Erdogan in einer neuen Verfassung mehr Minderheitenrechte für die Kurden anbieten. Ob die Rechnung aufgeht, ist ungewiss. Sicher ist aber: Erdogan will weitermachen.