Berlin. Die Intensität islamistischer Anschläge in Deutschland wächst. Ein Top-Ermittler des BKA erklärt, was ihn am meisten besorgt.
Viele Monate war es still. Zumindest in den meisten Medien fanden sich kaum Berichte über islamistische Terrorzellen, über Anschläge in Deutschland. Doch für die Ermittlerinnen und Ermittler beim Bundeskriminalamt (BKA) war die islamistische Gefahr nie weg. Und doch: Seit den Messerangriffen von Mannheim und Solingen wächst auch in den Sicherheitsbehörden die Sorge vor weiteren Gewalttaten.
Sven Kurenbach ist Leiter der Abteilung Islamistisch motivierter Terrorismus/Extremismus beim BKA. Er sagt: Der sogenannte „Islamische Staat“ sei ideologisch flexibel. Das mache ihn für Jugendliche attraktiv. Kurenbach erklärt im Interview mit dieser Redaktion, warum junge Täter immer wieder zum Messer als Tatwaffe greifen, und warum Waffenverbotszonen keine islamistischen Attentate verhindern können.
Der Messerangriff in Mannheim, das Attentat auf das Stadtfest in Solingen, der Angriff auf das israelische Generalkonsulat in München. Deutschland erlebt einen Sommer, in dem die islamistische Gewalt wieder aufflammt. Was beunruhigt Sie am meisten?
Sven Kurenbach: Es ist die Addition der Ereignisse, die beunruhigt. Denken Sie beispielsweise auch an den Angriff mit einer Machete in Linz am Rhein. Der Täter wollte in eine Polizeistation eindringen und Polizeibeamte angreifen. Glücklicherweise ist es nicht dazu gekommen, da er im Eingangsbereich der Dienststelle festgenommen werden konnte. Ja, wir haben in diesem Jahr einzelne islamistisch motivierte Anschläge erlebt, und es sind nicht nur die gewesen, die Sie aufgezählt haben. Es gab in diesem Jahr weitere Festnahmen, mit denen die deutschen Sicherheitsbehörden frühzeitig Anschlagsüberlegungen in Deutschland unterbinden konnten. Ich fürchte, die Entwicklung wird sich fortsetzen.
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Was sind die Gründe?
Kurenbach: Ein zentraler Punkt ist ganz sicher der Terrorangriff der Hamas im Oktober 2023 auf Israel. Ein Kollege bei Europol hat ihn mal als einen „Moral Boost for the Jihad Scene“, also eine moralische Rechtfertigung und Ermutigung für Dschihadisten, bezeichnet. Das beschreibt die aktuelle Situation ganz gut, da der andauernde Konflikt gerade junge Menschen emotionalisiert und in einigen Fällen auch radikalisiert. Das Feindbild Israel nutzen zudem Terrororganisationen wie der „Islamische Staat“ propagandistisch aus. Das bereitet mir Sorgen.
Viele Jahre hat sich der IS kaum für die Lage der Palästinenser interessiert.
Kurenbach: Der sogenannte IS ist ideologisch flexibel. Das unterscheidet heutige Terrororganisationen von Terroristen etwa um Osama bin Laden und al-Qaida. Früher waren Terroristen oder radikalisierte Personen stärker an eine Ideologie und an eine Organisation gebunden. Insgesamt stellen wir in Deutschland fest, dass gerade bei radikalisierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen das ideologische Wissen eher gering ist. Das haben wir früher so nicht beobachten können.
Die Paris-Attentäter 2015 töteten mit Sprengstoff und Sturmgewehren, Anis Amri nutzte einen Lastwagen, um Menschen auf dem Berliner Breitscheidplatz zu ermorden. Nun taucht immer wieder das Messer als Tatwaffe auf. Wie erklären Sie sich das?
Kurenbach: Das Messer ist für jeden Täter eine einfach zu beschaffende Tatwaffe – es ist in jedem Supermarkt zu bekommen, liegt in jeder Küche. Gerade islamistische Terroristen nutzen das Messer immer wieder bei Anschlägen. Wir haben glücklicherweise in Deutschland nur wenige Anschläge oder Anschlagsplanungen durch Dschihadisten erlebt, wo Schusswaffen eine Rolle gespielt haben. Auch bei Razzien und Durchsuchungen finden wir bislang sehr selten Sturmgewehre oder Pistolen. In der Szene der Islamisten ist die Dichte an Waffen nicht zu vergleichen mit der Situation bei rechtsextremistischen Gruppierungen. Das ist anders in Frankreich oder Belgien, dort haben islamistische Terroristen immer wieder auch Schusswaffen eingesetzt.
Ist das für Deutschland reines Glück?
Kurenbach: Nun, sicher darf man bei Ermittlungsverfahren auch mal Glück haben. Entscheidender ist jedoch, dass der Zugang zu Waffen in Deutschland deutlich stärker reguliert ist als in vielen unserer Nachbarstaaten. Zudem sind Schusswaffen – auch auf dem illegalen Schwarzmarkt – nicht billig. Die oftmals jungen islamistischen Täter haben aber meist wenig finanzielle Ressourcen. Ein Messer als Tatwaffe ist hingegen günstig zu haben. Auch die Anschläge, für die der sogenannte IS in seiner Propaganda wirbt, sind oftmals keine großen Plots. Es geht um Gewalt auf Stadtfesten und anderen öffentlichen Räumen. Attacken mit Messern oder Autos können jedoch ebenfalls verheerende Folgen haben.
Helfen Waffenverbotszonen?
Kurenbach: Durch Waffenverbotszonen können Anschläge durch hochradikalisierte Täter wie in Solingen nicht verhindert werden, aber sie können helfen, an Schwerpunkten Kriminalität zu reduzieren und Gewalttaten zu verhindern. Die Verbote müssen mit Kontrollen durch die Polizei durchgesetzt werden, dann haben sie auch eine Wirkung.
Die islamistischen Attentäter sind sehr häufig junge Männer, viele noch Teenager. Und viele von ihnen sind als Geflüchtete nach Deutschland gekommen, sollen sich allerdings überwiegend erst hier radikalisiert haben. Braucht es mehr Prävention in Asyl-Unterkünften?
Kurenbach: Es stimmt, dass unter anderem die Attentäter in Mannheim und Solingen als Asylsuchende nach Deutschland gekommen sind. Wir registrieren beim BKA die Nationalität der Gefährder. Das sind Personen denen grundsätzlich jederzeit eine schwere Straftat zugetraut wird. Darunter befindet sich unverändert ein hoher Anteil deutscher Staatsangehöriger, aber eben auch zunehmend Personen aus einigen arabischen Staaten und Zentralasien. Was deutlich wird: Die Integration von einem Teil der Asylsuchenden ist nicht wirklich erfolgreich. Präventionsprogramme sind daher wichtig. Sie müssen früh ansetzen, auch bei Geflüchteten. Allerdings werden die Programme zur Deradikalisierung nie alle erreichen können. Schauen Sie beispielsweise auf den Attentäter von Mannheim. Der wohnte nicht mehr in einer Asylunterkunft, hatte Familie, lebte bereits seit Jahren in Deutschland. Bei diesem Profil würde man auf den ersten Blick eher davon ausgehen, dass er weniger anfällig für eine Radikalisierung ist. Das war aber offenbar nicht der Fall.
Die islamistischen Gewalttäter sind oftmals jung, radikalisieren sich im Internet. Warum sind Terrorgruppen wie der IS online so erfolgreich?
Kurenbach: Terrororganisationen haben in den vergangenen Jahren eine Masse an Videos produziert. Allein diese schiere Menge an Propaganda ist ein Radikalisierungsbeschleuniger. Die Videos sind teilweise mehrere Jahre alt und zirkulieren unverändert auf diversen Social-Media-Kanälen und -Plattformen. Dies trifft etwa auf Militärparaden des sogenannten IS in Syrien oder auf Propaganda-Videos über den Alltag im „Islamischen Staat“, etwa in den damaligen Hochburgen wie in Raqqa, zu. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Trend zu einer zunehmenden Online-Radikalisierung feststellbar ist, der insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen beobachtet werden kann.
Über welche Kanäle werden die IS-Videos verbreitet?
Kurenbach: Wir sehen IS-Propaganda auf fast allen sozialen Plattformen. YouTube und Facebook haben gerade für die jüngeren Islamisten etwas an Bedeutung verloren; im Mittelpunkt stehen Messengerdienste wie Telegram und mittlerweile auch TikTok.
Wie stark gehen die Betreiber der Plattformen gegen islamistische Propaganda vor?
Kurenbach: Die Betreiber der sozialen Netzwerke müssten teilweise ihre Algorithmen anpassen. Das hilft im Kampf gegen islamistische Propaganda, denn oftmals spült der Algorithmus der Plattformen jungen Nutzerinnen und Nutzern immer wieder neue dschihadistische Inhalte auf die Profilseite, wenn sie sich erst einmal dafür interessiert haben. Wer sich im Extremfall für Bestandteile, die für den Bombenbau verwendet werden können, interessiert, bekommt neue und günstigere Angebote angezeigt. Das hilft insgesamt nicht weiter. Auch wenn es für die Betreiber der Netzwerke Aufwand bedeuten sollte, sehe ich diese hier in der Pflicht.
Wie häufig fordern Sie die Plattformbetreiber auf, Inhalte zu löschen?
Kurenbach: Wir schicken Löschersuchen und Entfernungsanordnungen regelmäßig an die Betreiber. Die Plattformen kommen unseren Anfragen mittlerweile schneller nach. Das müssen sie aber auch, da im Juni 2022 die Terrorist-Content-Online-Verordnung (TCO-Verordnung, Anm. d. Red.) in Kraft getreten ist, welche die Betreiber verpflichtet, terroristische Inhalte schnell und rechtsverbindlich zu entfernen. Insofern gibt es hier inzwischen einen Bewusstseinswandel, sodass wir bei islamistischen Inhalten, die zum Löschen übersandt werden, eine durchschnittliche Löschquote von circa 90 Prozent haben. Das ist aus unserer Sicht ein ausgesprochen gutes Ergebnis.
Sind Dienste wie Telegram für Sie ein Partner bei der Terrorabwehr?
Kurenbach: Nein, das sicher nicht. An einer Partnerschaft mit Sicherheitsbehörden wie dem BKA sind privatwirtschaftliche Unternehmen wie beispielsweise Telegram nicht oder kaum interessiert.
Die Sicherheitsbehörden haben unlängst einen Libyer in Bernau bei Berlin festgenommen. Der Islamist soll einen Anschlag auf die israelische Botschaft geplant haben. Der entscheidende Tipp soll von einem Nachrichtendienst aus dem Ausland gekommen sein. Sind die ausländischen Dienste Ihre Augen und Ohren in die ganz dunklen Ecken des Terrorismus?
Kurenbach: Das würde ich so nicht formulieren. Terroristen agieren international, und deshalb müssen wir Terroristen mit internationaler Zusammenarbeit bekämpfen. Als BKA wissen wir nicht immer, woher die Hinweise kommen, die von den deutschen Nachrichtendiensten an die Polizeibehörden weitergeleitet werden. Wir halten hierzu auch keine gesonderte Statistik vor. Allerdings zeigen unsere praktischen Erfahrungswerte, dass insbesondere wertige Hinweise auf Gefährdungssachverhalte oder Anschlagsplanungen oft von ausländischen Sicherheitsbehörden stammen. Dies dokumentiert, wie wichtig die internationale Zusammenarbeit für die öffentliche Sicherheit in Deutschland ist.
Viele islamistische Tatverdächtige kommen aus Zentralasien. Hier rekrutiert die Teil-Organisation Islamischer Staat Provinz Khorasan, kurz ISPK. Täter sollen von dort über die Ukraine bis nach Deutschland gekommen sein.
Kurenbach: Der ISPK ist eine Regionalorganisation des sogenannten IS, der eine internationale Agenda verfolgt und seinen Aktionsradius auf Europa und Deutschland ausgeweitet hat. Hauptfeind der Islamisten aus Zentralasien ist unverändert Russland. Dort hat es im Frühjahr einen schweren Anschlag auf ein Einkaufszentrum bei Moskau mit mehr als einhundert Toten gegeben. Doch auch Westeuropa ist im Visier des ISPK. Wir haben Erkenntnisse, dass Terroristen, die dem ISPK zuzurechnen oder verbunden sind, mit Schutzsuchenden aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sind. Aktuell läuft beispielsweise gegen sieben Personen aus Zentralasien eine Gerichtsverhandlung vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf. Die Männer werden einer IS-Zelle in Nordrhein-Westfalen zugerechnet, die Mitte 2023 zerschlagen werden konnte. Die Täter sind über die Ukraine nach Deutschland gekommen.
Deutsche Sicherheitsbehörden sind stark alarmiert über die Aktivitäten russischer Geheimdienste in Deutschland. Gibt es Hinweise darauf, dass der russische Staat auch Kontakt zu Islamisten in Deutschland aufgenommen hat?
Kurenbach: Nein, dazu haben wir bislang keine Erkenntnisse. Das halte ich auch für unwahrscheinlich. Im Gegenteil: Russland ist ebenfalls und unverändert Ziel dschihadistischer Gewalt.
Wie stark erschwert eine Präsidentschaft von Donald Trump den Anti-Terror-Kampf?
Kurenbach: Sicherheitspolitisch gibt es einen globalen Konsens: Der sogenannte Islamische Staat und al-Qaida sind Terrororganisationen. Das sehen wir so – das sehen die USA so. Daran ändert sich nichts, egal, wer im Weißen Haus regiert. Und auf der Basis arbeiten wir gut zusammen, die USA sind einer unserer wichtigsten und zuverlässigsten Sicherheitspartner. Zudem gilt: Die USA haben hier einige militärische Einrichtungen und Soldatinnen und Soldaten in Deutschland stationiert. Außerdem leben US-amerikanische Staatsangehörige in unserem Land und jedes Jahr besuchen Hunderttausende US-Amerikaner Deutschland. Eine Veränderung bei der Sicherheitskooperation wäre auch aus diesem Grund für die USA kein sinnvoller Schritt.
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