Berlin. In ihrer Autobiografie „Freiheit“ zieht die Kanzlerin a.D. auf 736 Seiten Bilanz. Die wichtigsten und überraschendsten Passagen.
Merkel erklärt zu wenig. Merkel redet immer so technokratisch. Merkel geht zum Lachen in den Keller. So oder so ähnlich klangen die Vorwürfe in 16 Jahren Kanzlerschaft. Jetzt, drei Jahre nach ihrem Abschied vom Amt, kann man eine andere Angela Merkel kennenlernen: Auf 736 Seiten erklärt die heute 70-jährige Bundeskanzlerin a.D. ausführlich ihre Entscheidungen – von der Frage, wie sich eine junge Ministerin im Jahr 1990 anziehen sollte, über die offenen Grenzen im Spätsommer 2015 bis zum Streit um den Nato-Beitritt der Ukraine.
Merkel erzählt, was in den Stunden davor und danach passierte, und vor allem, was die Öffentlichkeit damals nicht mitbekommen sollte. Doch es geht auch um die Frau hinter den Entscheidungen: Wem vertraut sie? Wo sammelt sie Kraft? Wie sieht sie sich selbst? Die wichtigsten, bewegendsten und überraschendsten Momente aus einem deutsch-deutschen Leben – eine Auswahl:
Über die Gretchenfrage ihrer Kanzlerschaft
Helmut Kohl holte Merkel nach der Wahl 1990 als Frauenministerin ins erste gesamtdeutsche Kabinett – geblieben aus dieser Zeit ist vor allem der spöttische Titel „Kohls Mädchen“. Erst als Kanzlerin setzt sie ein frauenpolitisches Ausrufezeichen – in ihrer Amtszeit wird die gesetzliche Quote eingeführt. 2017 wird sie auf einem Podium gefragt, ob sie Feministin sei. Es ist Merkels Gretchenfrage. Sie zögert. „In meinem Kopf arbeitete es. Ich spürte, dass ich weder Ja noch Nein sagen konnte. Aber warum? Seit bereits fast zwölf Jahren war ich Bundeskanzlerin. Als Frau, die es bis in das mächtigste Amt des Staates geschafft hatte, konnte ich Vorbild für andere Frauen sein, gerade auch für Mädchen. Und ich war es vielleicht auch.“ Sie erinnert sich, wie sehr sie die Frage verunsicherte: „Ich druckste herum, versuchte, beim Sprechen Zeit zu gewinnen, um meine Gedanken zu ordnen.“
Was nun folgt, gehört zu den lesenswertesten Passagen des Buchs: Merkel schreibt über die Kämpfe ihrer Mutter, ihre eigene Erziehung, über fehlende weibliche Solidarität und über ihren Lernprozess in puncto Frauenpolitik: „Nichts entwickelte sich von selbst, musste ich erkennen. Weder wurden Frauen bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt noch bei der Besetzung von Führungspositionen berücksichtigt.“ Wenn sie heute wieder gefragt würde, „dann hätte ich meine Gedanken geordnet und würde antworten: »Ja, ich bin Feministin, auf meine Art.«
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Über die Erfindung des Merkel-Stils
Im Januar 1991, kurz vor ihrer Vereidigung als Frauenministerin unter Kanzler Kohl, kauft sich Merkel ein dunkelblaues Kostüm. Es ist ein Zugeständnis. „Mein bisheriger Kleidungsstil der langen Röcke und Strickjacken, so vermutete ich, war vielen in der CDU zu alternativ und entsprach aus ihrer Sicht damals eher einem Mitglied der Grünen als einem der CDU.“ Später bekommt sie von einer CSU-Kollegin den Rat, es doch mal mit Hosenanzügen zu versuchen. Merkel zögert. Sie will nicht schon wieder unangenehm auffallen. Die Kollegin macht ihr Mut, sie habe sich auch schon getraut. „Ich war ihr für den Tipp dankbar“, schreibt Merkel heute. „Ein Hosenanzug als Mutprobe? So war es jedenfalls damals in CDU und CSU. Aus heutiger Sicht eine vollkommen skurrile Geschichte.“
Später wird die Kombination aus buntem Blazer plus Hose zu Merkels Markenzeichen. Ihre Lust auf farbenfrohe Blazer – das liege wohl auch an der Urerfahrung, „dass ich im DDR-Alltag kräftige Farben oft vermisste“. An ihrem ersten Tag als Kanzlerin allerdings trägt sie einen schwarzen Hosenanzug mit Kragen und Knöpfen aus schwarzem Samt, dazu eine goldene Kette mit einem Anhänger aus mattem Bernstein. Sie hat jetzt eine Schneiderin, die Hamburger Modemacherin Bettina Schoenbach, „mit der ich meinen eigenen Kleidungsstil entwickeln konnte“. Und die typische Merkel-Frisur? Sie ist ein Werk von Petra Keller, ehemalige Visagistin des DDR-Fernsehens und bis heute an Merkels Seite. „Sie schaffte es, aus meinen Haaren eine Frisur zu machen.“
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Über die wichtigste Frau an ihrer Seite
Beate Baumann begleitet Merkel seit mehr als 30 Jahren als enge Vertraute, politische Beraterin, diskrete Büroleiterin. Auch beim Schreiben ihres Buchs – sie igeln sich dazu auch mal tageweise an der Ostsee ein – hat Baumann Merkel geholfen. Die allererste Begegnung schildert Merkel so liebevoll und detailgenau wie bei niemandem sonst: 31. Januar 1992, 15 Uhr, Merkel hockt mit gebrochenem Bein zu Hause in ihrer Wohnung in der Berliner Wilhelmstraße. Sie sucht zu der Zeit eine zuverlässige Mitarbeiterin, Christian Wulff, der spätere Bundespräsident, empfiehlt die 28-jährige Parteifreundin aus Osnabrück. Baumann klingelt, kommt rein und macht auf Anhieb alles richtig, sogar Merkels Lieblingskaffee. Keine Frage: Joachim Sauer mag die Liebe ihres Lebens sein, Beate Baumann ist ihr mindestens genauso wichtig.
Über die wichtigste Kehrtwende ihrer Kanzlerschaft
Der Reaktorunfall von Fukushima am 11. März 2011 führt bei Merkel zu einer 180-Grad-Wende in der Atompolitik. Der Moment der Entscheidung liest sich wie das Skript für ein Kammerspiel: Am 12. März treffen sich Merkel und ihr damaliger FDP-Vizekanzler Guido Westerwelle in ihrem Büro im Kanzleramt. Sie laufen im Raum auf und ab, das Licht ist gedimmt, Merkel fühlt sich erschöpft. „Ich blieb stehen, Guido Westerwelle auch, wir schauten uns an. Noch hatte ich keinen konkreten Plan, ich sagte nur: ‚Guido, wir können nicht einfach so weitermachen, wir müssen ohne Tabus neu über die Kernenergie nachdenken.‘ Nach kurzem Schweigen fragte er mich: ‚Meinst du das ernst?‘ ‚Ja‘, sagte ich. ‚Ich glaube, du hast recht‘, antwortete er ruhig. 90 Tage später verkündet Merkel den endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie. Sie bleibt bis heute dabei: „Ich kann Deutschland auch für die Zukunft nicht empfehlen, wieder in die Nutzung der Kernenergie einzusteigen.“
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Über die Septembernacht, die alles änderte
Es sind die beiden umstrittensten Punkte in Merkels Kanzlerschaft – ihre Russlandpolitik und ihre Flüchtlingspolitik. Im Spätsommer 2015, am Abend des 4. September, ruft der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann an und fragt, ob Merkel die Flüchtlinge, die sich von Ungarn aus über die Autobahn auf den Weg nach Westen gemacht hatten, ins Land lassen werde. In Merkels Augen droht eine humanitäre Notlage. Sie holt ihren Vizekanzler Sigmar Gabriel ins Boot, CSU-Chef Seehofer dagegen erreicht sie nicht. Den ganzen Abend lang geht er nicht ans Handy, reagiert nicht auf ihre SMS. Merkel entschließt sich um 22.45 Uhr, nicht länger zu warten. Kurz nach Mitternacht geben Deutschland und Österreich via Facebook bekannt, dass die Flüchtlinge einreisen können. Merkel ist an diesem Abend in ihrem Haus in der Uckermark. Als die Entscheidung gefallen ist, merkt sie, wie immens die Anspannung der zurückliegenden Stunden war. „Von einer Sekunde auf die andere war ich todmüde und fiel ins Bett.“ Seehofer meldet sich am nächsten Morgen schließlich doch und spricht von einem Fehler.
Die Debatte über die Flüchtlingspolitik, über Obergrenzen und Zurückweisungen an der Grenze führt in den Folgejahren fast zum Bruch zwischen CDU und CSU. Knapp zehn Jahre später gilt Merkels damaliger Schritt in ihrer Partei unter Friedrich Merz als schwerer Fehler – und ihr legendärer Satz als toxisch. „Wir schaffen das – kein Satz ist mir in meiner gesamten politischen Laufbahn so sehr um die Ohren gehauen worden wie dieser“, schreibt Merkel heute. Der Satz, das ist ihr wichtig, ging aber noch weiter, damals, bei der Pressekonferenz im Sommer 2015: „Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.“ Sie steht auch heute noch dazu.
Über die Physikerin im Kampf gegen das Virus
Merkel gehört beim Kampf gegen Corona zum Team Vorsicht. Die Physikerin weiß, was exponentielles Wachstum ist – und begreift nicht, dass andere das nicht begreifen wollen: „Als Naturwissenschaftlerin machte es mich schier verrückt, in der Pandemie (…) nach dem Prinzip Hoffnung vorzugehen, dass es schon nicht so schlimm werden würde.“ In der entscheidenden Sitzung der Ministerpräsidentenkonferenz am 15. Oktober 2020 warnt sie vor einer dramatischen Winterwelle: „Alle verstummten. ‚Kassandra hat gesprochen‘, sagte Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, in die Stille hinein, machte eine kurze Pause, um dann hinzuzufügen: ‚Kassandra hatte recht‘.“ So uneitel Merkel sonst auch sein mag, hier gefällt es ihr offensichtlich ziemlich gut, mit der mythologischen Heldin, die den Untergang der Stadt Troja vorhergesagt hatte, verglichen zu werden.
Über ihr rätselhaftes Zittern
In den letzten zwei Jahren ihrer Amtszeit kommt es mehrmals vor, dass Merkel bei öffentlichen Auftritten unkontrolliert zu zittern beginnt. Sie lässt sich untersuchen, doch es gibt keine Anzeichen für eine neurologische oder andere Erkrankung. „Die Reaktion meines vegetativen Nervensystems war offensichtlich anders zu verstehen“, schreibt Merkel. „Eine Osteopathin erklärte mir, dass mein Körper dabei war, Spannungen abzubauen, die er über lange Zeit aufgebaut hatte, nicht nur nach dem Tod meiner Mutter im Frühjahr, nach dem ich kaum Zeit zum Trauern gefunden hatte, sondern auch im Prozess des Loslassens von meinen Ämtern.“
Über ihr Buch – und wie es wirkt
Merkel ist überraschend ehrlich, wenn es um Situationen geht, die ihr peinlich waren, in denen sie sich geschämt, blamiert oder schlicht Fehler gemacht hat. Die erst beschlossene und dann wieder zurückgenommene „Osterruhe“ im zweiten Pandemiejahr zum Beispiel. Genauso klar wird aber auch, in welchen Situationen ihr zuverlässig der Kragen platzt. Etwa als die West-CDUler 1990 den ostdeutschen Parteifreunden erklären wollen, was eine Zweidrittelmehrheit ist: „Für wie blöd hielt man uns?“ Oder: Wenn es heißt, ihre ostdeutsche Herkunft sei reiner Ballast und sie selbst ja nur eine „angelernte Bundesdeutsche“.
An vielen Stellen blitzt Merkels trockener Humor auf, über weite Strecken erklärt sie aber genauso trocken und gnadenlos detailliert, erst wie die DDR funktioniert hat und dann wie sie 35 Jahre lang als Politikerin Baustelle für Baustelle beackert hat. Wer unterhalten werden will, findet krimireife Szenen bei Gipfeltreffen, Schlüssellochblicke ins Kanzlerinnenleben und herrlich schnoddrige Kommentare. Wer sein Merkel-Bild überprüfen will, kann den weiten Weg vom ostdeutschen Theologenkind zur mächtigsten Politikerin des Westens noch einmal mitlaufen. Aber er braucht Geduld und muss seitenweise Graubrot ertragen. Merkels Buch ist genau das: typisch Merkel.
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