Berlin. Bundesumweltministerin Steffi Lemke findet im Interview überraschende Antworten zum Absturz der Grünen – und zu den Wahlerfolgen der AfD.

Warum sind die Grünen im Osten zur Kleinpartei geschrumpft? Bundesumweltministerin Steffi Lemke findet zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober überraschende Antworten – und sagt, worauf Vizekanzler Robert Habeck sich jetzt einstellen muss.

Sie leben in Dessau und arbeiten in Berlin. Was ist – 34 Jahre nach der Wiedervereinigung – der größte Unterschied zwischen Ost und West?

Steffi Lemke: Unser Land kann stolz darauf sein, was wir hinbekommen haben. Wir haben eine autoritäre sozialistische Staatsordnung auf friedlichem Wege in eine parlamentarische Demokratie überführt. Das ist eine riesengroße Leistung der Menschen in der ehemaligen DDR, die wir uns immer noch zu wenig bewusst machen.

Wo sehen Sie den Osten noch im Nachteil?

Wir haben nach wie vor ökonomische Ungleichgewichte. Ostdeutsche erben weniger als Westdeutsche, sie haben weniger Vermögen, sie sind seltener in Führungspositionen in Institutionen oder Unternehmen. Da haben wir immer noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen. 

Erklären diese Ungleichgewichte, warum die AfD in den östlichen Bundesländern besonders stark geworden ist? 

Sicher nur zum Teil. Ein anderer Teil der Erklärung ist gezielte Zerstörungsarbeit. Extreme und populistische Kräfte stoßen in eine verunsicherte Gesellschaft hinein, die nach Halt und Orientierung sucht. Der Westdeutsche Björn Höcke hat sich Thüringen mit seinen ökonomischen Verwerfungen sehr gezielt für den Aufbau der AfD ausgesucht. 

Der Zerstörungswille der AfD hat sich bei der Wahl des Thüringer Landtagspräsidenten wieder gezeigt. Ist die Zeit für ein AfD-Verbot gekommen? 

Ich habe manchmal den Eindruck, dass Wahlergebnisse der AfD zu lange als ostdeutscher Betriebsunfall wahrgenommen wurden. Dabei ist die AfD auch bei der letzten Landtagswahl in Hessen zweitstärkste Kraft geworden. Die AfD hat im Thüringer Landtag gezeigt, dass sie gezielt versucht, die Demokratie zu sabotieren. Wir müssen auf allen Ebenen daran arbeiten, diesen Zerstörungsprozess zu stoppen, denn es geht ihr darum, demokratische Mittel zu nutzen, um die Demokratie zu zersetzen. Deshalb wird auch geprüft, ob ein Verbot begründet und verhältnismäßig wäre. Danach fällt die Entscheidung. 

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    Die AfD feiert Wahlerfolge, die Grünen sind am Boden: 3,2 Prozent in Thüringen, 5,1 Prozent in Sachsen, 4,2 Prozent in Brandenburg. Woran liegt das? 

    Jedenfalls nicht an der Arbeit der Grünen in ostdeutschen Landesregierungen. Im Osten bildet die Sehnsucht nach Sicherheit und Stabilität in diesen extrem schwierigen Zeiten offensichtlich einen größeren Resonanzraum für scheinbar einfache Antworten, mehr als in ökonomisch stabileren Regionen. Die Grünen werden besonders kritisch beäugt, weil sie daran festhalten, dass man angesichts der Probleme nicht den Kopf in den Sand stecken kann, und daran, dass Stabilität auch Veränderung voraussetzt. 

    Welche Fehler haben Sie gemacht?

    Wir müssen konsequenter von der Lebensrealität der Menschen her denken und handeln und weniger aus abstrakten europäischen Zielen oder abstrakten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Gerade in einer aktuell aus vielen – auch guten – Gründen veränderungsmüden Gesellschaft. Zugleich müssen wir stärker deutlich machen, dass unser Ziel natürlich um die Menschen kreist und darauf zielt, ihre Lebensumstände und ihre Zukunftsperspektiven zu stabilisieren. Beim neuen Hochwasserschutzgesetz verweise ich zum Beispiel sehr konkret darauf, dass es um Hab und Gut, Leib und Leben geht. 

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    Helfen die Rücktritte von Ricarda Lang und Omid Nouripour vom Parteivorsitz? 

    Es hilft, wenn es ein klares Signal gibt, dass man Wahlergebnisse nicht ignoriert. Mit seinem Rücktritt hat der Bundesvorstand für die gesamte Partei Bündnis 90/Die Grünen Verantwortung übernommen. Wir wollen etwas ändern – auch bei uns. 

    Der Vizekanzler bleibt im Amt und ordnet die Dinge in seinem Sinne. Sind die Grünen dabei, sich ins BRH zu verwandeln, das Bündnis Robert Habeck?

    Unsinn, mit Sicherheit nicht. Das würden die Grünen nicht mit sich machen lassen, und das liegt schon in der DNA der Partei. Es ist nicht vorstellbar, dass sich die Grünen an einer einzigen Person ausrichten – und das wäre auch nicht im Sinne von Robert Habeck. Er hat schon jetzt eine herausragende Position als Vizekanzler. Und er wird sie auch als wahrscheinlicher Spitzenkandidat der Grünen haben. 

    Eine One-Man-Show wird es also nicht geben? 

    Nein. Wir haben eine klare Quotierungsregelung, die Ausnahmen zulässt, um einzelne Spitzenkandidaten zu wählen. Aber den Anspruch, die Vielfalt der Partei in der Führung abzubilden, und den, dass Frauen mehr als nur ein Wörtchen mitzureden haben, geben wir niemals auf. 

    Habeck soll Spitzenkandidat werden, nicht Kanzlerkandidat?

    Die Frage, ob wir einen Kanzlerkandidaten oder einen Spitzenkandidaten nominieren, halte ich nicht für entscheidend. Entscheidend wird sein, wem die Menschen in unserem Land bei der Bundestagswahl Verantwortung für Gegenwart und Zukunft übertragen möchten. Und dazu kann ich nur sagen – Wahlkampf kommt von Kämpfen.

    Unterstützen Sie Franziska Brantner und Felix Banaszak, Habecks Auswahl für den Parteivorsitz?

    Wenn Franziska Brantner und Felix Banaszak auf dem Parteitag kandidieren, hat dieses Duo selbstverständlich meine Unterstützung. 

    Habeck hat das verkorkste Heizungsgesetz zu verantworten. Eine Hypothek für seine Spitzenkandidatur? 

    Bei dem Entwurf des Heizungsgesetzes sind vor eineinhalb Jahren Fehler gemacht worden, die Robert Habeck inzwischen – ich weiß nicht, wie oft – eingestanden hat. Diese Fehler wurden behoben. Fristen wurden erheblich ausgeweitet. Und der Einbau von Wärmepumpen wird vom Staat ordentlich bezuschusst. Insofern sollte es keine Hypothek sein. Aber richtig ist natürlich, dass da etwas hängen geblieben ist und dass die Opposition nicht müde wird, auf diesem ersten Entwurf rumzureiten, anstatt zu applaudieren und zu sagen: Gut, dass jemand die Größe hat, Fehler nicht nur zu beheben, sondern sie auch einzuräumen. 

    Können die Grünen mit Klimaschutz noch Wahlen gewinnen? 

    Wir müssen auf die Klimakrise reagieren – unabhängig von Bundestagswahlen. Mit Klimaschutz und Vorsorge. Ich habe zum Beispiel vor Kurzem den Entwurf für ein neues Hochwasserschutzgesetz vorgelegt, das den deutschen Hochwasserschutz an die veränderten Bedingungen anpasst. Auch wenn das Klimathema gerade keine Konjunktur hat, können wir unsere Politik doch nicht nach Friedrich Merz ausrichten. Als Umweltministerin habe ich leider manchmal das Gefühl, dass die Grünen allein auf weiter Flur stehen, wenn es um die Klimakrise und die Naturkrise geht.

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    Die Menschen treibt mindestens so sehr die Migration um, darauf hat jetzt Ihr Partei- und Kabinettskollege Cem Özdemir reagiert. In einem sehr persönlichen Zeitungsbeitrag schildert er, wie seine Tochter von „Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert“ wird. Özdemir plädiert für eine harte Kehrtwende in der Migrationspolitik. Unterstützen Sie ihn dabei?

    Ich unterstütze, dass wir uns gegen Angriffe auf Leib und Seele von jungen Frauen stellen müssen. Die Antworten in den vergangenen Jahren waren nicht ausreichend. Deshalb ist es richtig, dass auch wir Grünen unsere Positionen auf den Prüfstand stellen. Wir dürfen in der Migrationsdebatte aber nicht Maß und Mitte, nicht unsere Humanität verlieren. Es werden gegenwärtig, leider auch von demokratischen Parteien, komplett hilflose Vorschläge auf den politischen Markt geworfen … 

    … Welche meinen Sie? 

    Wenn wir Europa bewahren wollen, kann es nicht funktionieren, dass Deutschland alleine versucht, seine Grenzen zu schützen. Wir müssen das als Europäische Union hinbekommen. Ich warne vor politischer Spiegelfechterei und vor Scheinlösungen, dafür ist die Herausforderung zu groß und auch die Erwartung in der Bevölkerung. Und ich sehe mit großer Sorge, dass diese Debatte inzwischen ein Ausmaß bekommen hat, dass sie erstens nur den Populisten nützt und zweitens dazu führt, dass viele Mitbürgerinnen und Mitbürger, die seit Jahren, teils Jahrzehnten, hier gut integriert leben, Angst bekommen. 

    Soll Innenministerin Faeser die Grenzkontrollen wieder aufheben? 

    Ich finde Grenzkontrollen richtig, wenn sie wirksam sind und Schleppern das Handwerk legen. Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, dass Lkws mit Menschen im Laderaum quer durch Europa fahren können und diese Menschen dabei elendig sterben. Das muss dringend unterbunden werden. Ob ein Grenzübergang immer der richtige Ort für eine Kontrolle ist, vermag ich nicht zu beurteilen.

    Stehen Sie voll und ganz hinter der europäischen Asylreform, die auch Verfahren an den Außengrenzen vorsieht? 

    Wir wollen die Verteilung von Flüchtlingen in Europa besser regeln und den fürchterlichen Zustand auf dem Mittelmeer beenden. Ich glaube nicht, dass alle Antworten schon gefunden sind. Aber was die Europäische Union verabschiedet hat, wollen wir als Bundesregierung umsetzen. Das unterstütze ich. Bei all dem bleibt aber ebenso wichtig, dass wir Fluchtursachen wirksam bekämpfen. Hier ist noch verdammt viel Luft nach oben.