Berlin/Nürnberg. Islam-Expertin Gülden Hennemann betreut Extremisten in Haftanstalten. Viele Täter seien nicht psychisch krank – sondern ideologisiert.
Gülden Hennemann verbringt einen Teil ihres Arbeitstags hinter Gittern. Die Politologin und Islamwissenschaftlerin besucht Islamisten in Haftanstalten – ihr Ziel: Eine Radikalisierung von Menschen in Haft zu stoppen. Hennemann arbeitete einst für den bayerischen Verfassungsschutz, nun leitet sie die Zentrale Koordinierungsstelle für Maßnahmen gegen Extremismus (ZKE) mit Sitz in Nürnberg. Sie verantwortet von dort aus alle 36 bayerischen Haftanstalten. Hennemann sagt: „Wir dürfen nicht vergessen, die Kraft der Ideologie des Dschihad zu bekämpfen.“ Bei Neonazis, so Hennemann, würde ja auch niemand sagen, er sei Rassist, nur weil er eine schlimme Kindheit gehabt hatte. „Sondern weil er überzeugt davon ist.“
Was macht Menschen zu Dschihadisten?
Gülden Hennemann: Die Gründe sind vielfältig. Traumatisierungen, Kriegserfahrungen oder Perspektivlosigkeit machen empfänglich für Anwerbeversuche. Es ist jedoch nicht immer der vermeintlich psychisch erkrankte Täter, der im Namen des Islam Gewalt verübt. Das ist mir zu einfach. Wir neigen in Deutschland dazu, Terror zu psychologisieren. Aber nicht jeder Terrorist ist so, weil er eine schlechte Kindheit hatte oder weil er psychisch krank ist. Wir dürfen nicht vergessen, die Kraft der Ideologie des Dschihad zu bekämpfen. Bei Neonazis würde uns das nicht passieren. Da sagt niemand, er ist Rassist, nur weil er eine schlimme Kindheit hatte, sondern weil er überzeugt davon ist, dass es so etwas wie „deutsches Blut“ gibt. Wir treten den Islamisten oft noch immer naiv gegenüber.
Woran erkennen Sie, dass jemand zum Islamisten geworden ist?
Hennemann: Ich habe kein Profil im Kopf, keine Checkliste, die ich abhake. Was uns auffallen muss, ist eine Verhaltensänderung einer Person, die ins Extreme geht. Ein Mensch, der sich distanziert, der zunehmend in einem dualistischen Freund-Feind-Weltbild denkt. Ein Hinweis kann sein, dass ein Inhaftierter den Kontakt zu einer Beamtin plötzlich ablehnt, weil sie eine Frau ist, und dies vermeintlich religiös begründet. Auch fallen uns Äußerungen auf, etwa wenn ein Gefangener Sympathie für einen Attentäter zeigt oder für eine Organisation wie den „Islamischen Staat“. Es kann auch zu Konflikten mit anderen Inhaftierten kommen, zu Vorwürfen, die anderen seien keine „wahren Muslime“. Bei solchen Parolen werden wir hellhörig. Dabei kommt uns zu Gute, dass wir im Justizvollzug „sehr nah dran“ an den Gefangenen sind. Bereits vor der Haft vorhandene radikale Einstellungen werden bei uns „sichtbar“ und von den Bediensteten auch als solche erkannt.
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Können auch andere Faktoren, die weniger offensichtlich sind, Hinweise auf eine Radikalisierung liefern?
Hennemann: Ja. Legt eine Person beispielsweise in Haft die Arbeit nieder, obwohl sie ihr vorher sehr viel Spaß gemacht hat und ihr wichtig war, müssen wir das ernstnehmen. Oder sie steigt aus den Freizeitangeboten aus, isoliert sich von Mitgefangenen, die aus ihrer Sicht „ungläubig“ sind, oder nimmt keinen Familienbesuch mehr an – das alles können Hinweise auf eine Radikalisierung sein. Es zählt aber das Gesamtbild, und Radikalisierungen verlaufen sehr individuell. Klarheit bringen erst direkte Gespräche mit den Inhaftierten.
Wie laufen die Gespräche ab?
Hennemann: Ich bin keine Polizistin und auch keine Therapeutin. Ich habe den analytischen Blick noch aus meiner Zeit beim Verfassungsschutz. Wichtig ist, dass unsere Gespräche mit einer Verdachtsperson in Haft keine Verhöre sind. Wir wollen wissen und verstehen, wo ein Mensch ideologisch steht. Deshalb stellen wir vor allem Fragen wie: Warum hörst du kein Radio mehr oder warum schaust du nicht mehr Fernsehen? Warum ist dir das Gebet so wichtig? Es ist uns wichtig zu erfahren, was dahintersteckt: Bist du allein? Gibt es einen Auslöser für dein neues Verhalten? Und ganz wichtig: Brauchst du Hilfe, etwa von einem muslimischen Seelsorger? Wir setzen darauf, dass Menschen mit uns freiwillig sprechen, wir lassen den Gesprächsfaden deshalb von unserer Seite aus nicht abreißen. Wer sich mit dem Koran befasst, ist nicht automatisch ein Islamist.
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Was passiert, wenn sich ein Verdacht erhärtet?
Hennemann: Wenn sich in dem Gespräch eine radikale Haltung offenbart, ist es wichtig für uns zu schauen, wie gefestigt die Einstellung ist. Dann schneide ich in den Gesprächen bewusst auch sensible Themen wie Koranverbrennungen, die Rolle der Frau, Homosexualität oder Antisemitismus an. Besonders relevant ist auch, ob die Person ein Sendungsbewusstsein hat, also andere Menschen missionieren will. Dann wird es gefährlich.
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Was können Sie dann tun?
Hennemann: Wir haben erstmal repressive Maßnahmen, von denen Gefängnisse Gebrauch machen können. Der Gefangene wird intensiv beobachtet, auch die Kontakte zu Mitgefangenen haben wir im Blick. Er wird ermahnt, sein Gedankengut nicht weiter zu verbreiten. Wir können gezielt seinen Haftraum durchsuchen und Briefe kontrollieren. Weitere Möglichkeiten sind die gemeinschaftliche Unterbringung während der Arbeitszeit und Freizeit einzuschränken, anstaltsintern zu verlegen oder Einzelhaft anzuordnen. Am Ende der Kette steht die Verlegung in eine andere Haftanstalt. Damit ziehen wir Menschen komplett aus dem gewohnten Umfeld heraus. Zudem informieren wir die Sicherheitsbehörden, auch das Landesamt für Verfassungsschutz. In allen Anstalten sind außerdem Extremismusbekämpfungsbeauftragte als zentrale Ansprechpartner zur Extremismusbekämpfung bestellt.
Allein mit repressiven Maßnahmen wird man niemanden aus der extremen Gedankenwelt holen.
Hennemann: Deshalb setzen wir in Bayern neben Repression auch auf Prävention und auf Aussteigerprogramme. Je früher wir merken, dass ein Mensch ideologisiert ist, desto mehr können wir tun. Für Menschen mit Potential für eine Radikalisierung, die aber noch nicht extrem denken, bieten wir beispielsweise Gruppengespräche an. Wir sprechen über Gewalt in der Kindheit oder Jugend, über fehlende Vaterfiguren etwa nach einer Trennung der Eltern, aber auch über Themen wie Homosexualität und Antisemitismus. Wir wollen kritisches Denken bei den Inhaftierten verankern. Dazu gehören auch Rollenspiele, in denen Inhaftierte sich einmal als Sohn, dann auch als Vater spielen. Wir merken, wie schnell vor allem die jungen Menschen in die Gruppendiskussion einsteigen. Die Fähigkeit, Ideologie zu erkennen und kritisch zu hinterfragen, ist die beste Prävention gegen Islamisten.
Und was machen Sie mit denen, die schon radikal unterwegs sind?
Hennemann: Für diese Menschen gibt es Aussteigerprogramme. Das übernehmen bei uns Fachleute des Kompetenzzentrums Deradikalisierung des Bayerischen Landeskriminalamts. Deradikalisierungsarbeit, bei der sich Menschen von ihrer Ideologie distanzieren sollen, dauert lange, manchmal Jahre. Diese Arbeit ist wichtig – gerade auch im Hinblick auf die Zeit nach der Entlassung.
Sie sprechen es an: In einzelnen Fällen gab es bereits Gewalttaten durch Islamisten, die aus der Haft kamen.
Hennemann: Oft denke ich, die entlassenen Islamisten konnten wir gut vorbereiten und aus ihrer Wahnwelt rausholen. Manche können wir jedoch trotz großer Anstrengungen auch während der Inhaftierung nicht erreichen, da sie zu tief in ihrer Ideologie verhaftet sind. Fast ausschließlich haben sie sich bereits vor ihrer Inhaftierung radikalisiert. Zur Vorbereitung der Entlassung stehen wir in allen Fällen in engem Austausch mit den Sicherheitsbehörden. Durch diese findet insbesondere eine umfassende Risikobewertung für jeden Einzelfall statt, um dann geeignete Maßnahmen zu treffen. Wir im Justizvollzug unterstützen sie dabei mit unseren Beobachtungen und Einschätzungen, die wir während der Haft gewonnen haben.
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