Berlin. Israels Botschafter in Berlin, Ron Prosor, rechtfertigt das Vorgehen im Libanon – und sagt, was er jetzt von Deutschland erwartet.

Was kommt nach dem Krieg in Nahost? Der israelische Botschafter in Berlin, Ron Prosor, skizziert vor dem Jahrestag des Oktober-Massakers einen Weg zur Verständigung. Im Interview mit unserer Redaktion sagt er auch, wie Deutschland zu einem demokratischen Gazastreifen beitragen könnte..

Das Massaker vom 7. Oktober jährt sich bald zum ersten Mal. Ist Israel seither sicherer geworden?   

Ron Prosor: Israel ist sicherer geworden, ganz klar. Im Gazastreifen gab es einen Terrorstaat der Hamas, der in dieser Stärke hoffentlich nie wieder da sein wird. Wir haben die Verantwortung, die militärische Infrastruktur der Hamas zu beseitigen. Sonst ist ein Neuaufbau unmöglich.  

Wie weit ist Israel von seinem Ziel entfernt, die Hamas vollständig zu zerstören?  

Prosor: Ich denke, wir haben 85 Prozent der terroristischen Streitkräfte beseitigt. Aber noch immer sind 101 Geiseln in den Händen der Hamas. Wir wollen sie nach Hause bringen, auch das ist Ziel des Krieges. Wenn die Geiseln freigelassen werden, können wir morgen einen Waffenstillstand haben. Dieser Krieg wird nicht enden, bevor die Geiseln wieder in Israel sind.  

In Israel gibt es Massendemonstrationen gegen die Regierung Netanjahu. Die Menschen glauben nicht, dass die Geiseln freikommen, solange der Gazastreifen bombardiert wird … 

Prosor: Die Familien haben das Recht zu demonstrieren. Sie wollen alle Geiseln nach Hause holen. Aber das scheitert nicht an der israelischen Regierung, sondern an der Hamas. Wir werden nach einem Jahr immer noch fast täglich aus Gaza mit Raketen beschossen. 

Mehr von Israel-Korrespondentin Maria Sterkl

In diesem Krieg sind Abertausende Palästinenser getötet worden, nicht alle waren Terroristen. Wie viele zivile Opfer rechtfertigt die Zerstörung der Hamas? 

Prosor: Israel wird ständig aufgefordert, verhältnismäßig zu reagieren. Lassen wir uns auf die Idee mal ein: Es wurden 364 Jugendliche beim Nova-Musikfest in der Negev-Wüste hingerichtet. Sollen wir jetzt 364 palästinensische Jugendliche töten? Israel hat nie gezielt Zivilisten getötet – im Gegensatz zu Hamas und Hisbollah.  

Daran gibt es Zweifel.  

Prosor: Wenn Zivillisten ums Leben kommen, dann deshalb, weil die Hamas sie als Schutzschilde missbraucht. Schulen, Moscheen und Krankenhäuser werden für den Krieg genutzt. Übrigens verliert auch Israel tagtäglich Soldaten und Offiziere im Gazastreifen – 715 sind seit Kriegsbeginn gefallen. 

Lesen Sie hier: Verstörende Berichte: Nutzt Israels Armee menschliche Schutzschilde?

Die israelische Regierung hat immer noch keinen Plan vorgelegt, wer den Gazastreifen nach Ende des Krieges kontrollieren soll. Haben Sie eine Vorstellung? 

Prosor: Ich bin der Überzeugung, dass die pragmatischen Staaten im Nahen Osten – Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien, Ägypten – direkt beteiligt werden müssen. Wir brauchen ein arabisches Quartett für eine Friedenslösung. Diese Staaten müssen die Verantwortung dafür übernehmen, dass im Gazastreifen ein demokratischer palästinensischer Staat entsteht. Wir werden nie wieder einen Terrorstaat in unserer unmittelbaren Nachbarschaft dulden.   

Ist in einem Friedensprozess auch Deutschland gefragt? 

Prosor: Deutschland könnte sich an der Deradikalisierung der palästinensischen Bevölkerung beteiligen. Es geht um politische Bildung – angefangen in den Schulen. Bisher werden keine Geistesgrößen wie Einstein oder Marie Curie als Vorbilder gezeigt, sondern Terroristen wie Dalal Mughrabi, die 1978 an der Ermordung von 38 Israelis beteiligt war, darunter 13 Kinder. Gerade Deutschland kann einen großen Beitrag bei der Deradikalisierung leisten – und auf eigene Erfahrungen bei der Entnazifizierung nach 1945 zurückgreifen. Einen Neuanfang kann es nur ohne die Hamas und ihre Ideologie geben.  

Lesen Sie auch: Im Camp der „Höllenfrauen“ hofft man auf die Wiedergeburt des IS

Und Sie glauben, das gelingt?  

Prosor: Ich bin ein geborener Optimist.  

Ron Prosor / Botschafter Israel
Israels Botschafter Ron Prosor: „Deutschland würde es auch nicht hinnehmen, wenn ständig Raketen auf Berlin, Düsseldorf oder Hamburg niedergehen.“  © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Fürs Erste hat Israel eine „neue Phase“ des Krieges ausgerufen – im Libanon. Wie wollen Sie es auch noch mit der Hisbollah aufnehmen?   

Prosor: Seit dem 8. Oktober werden wir täglich von der Hisbollah aus dem Libanon beschossen. Wir haben 80.000 Flüchtlinge in unserem eigenen Land. Im Norden Israels sind Geisterstädte entstanden. Kirjat Schmona, Metulla, Manara – niemand ist da. Wir wollen Ruhe, damit die Menschen in ihre Häuser zurückkehren können. Wir verteidigen uns gegen 50.000 Terroristen im Süden des Libanon. Die Hisbollah hat mehr Feuerkraft als manche Nato-Staaten – keine andere nicht-staatliche Gruppe hat so ein Arsenal. Als ehemaliger Botschafter bei den UN will ich an die Resolution 1701 erinnern, die der UN-Sicherheitsrat während des Libanon-Krieges 2006 beschlossen hat. Danach darf die Hisbollah nicht südlich des Litani-Flusses sein. Die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland könnten mehr tun, um die Resolution umzusetzen. Die Hisbollah hält den Libanon im Würgegriff – und niemand unternimmt etwas. Daher wird Israel dafür sorgen, dass sich die Hisbollah über den Litani-Fluss zurückzieht.   

Mehr zum Thema: Großer Krieg? Diese drei Optionen gibt es jetzt im Nahen Osten

Aber mit welchen Mitteln? Ist es mit dem Völkerrecht vereinbar, massenhaft Walkie-Talkies und Pager von Hisbollah-Mitgliedern  explodieren zu lassen?  

Prosor: Erstens: Darüber weiß ich nichts. Zweitens: Grundsätzlich sind Mitglieder der Hisbollah legitime Ziele. Der Hisbollah-Kommandeur Ibrahim Akil war direkt verantwortlich für Bombenanschläge und Entführungen in den 1980er-Jahren. Auch deutsche Staatsbürger hat er als Geiseln genommen. Jetzt hat er ein Massaker wie am 7. Oktober im Norden Israels geplant. Es ist völlig legitim, ihn auszuschalten.   

Die explodierenden Kommunikationsgeräte haben mutmaßlich auch Kinder getötet. Und wer außer Israel wäre technisch dazu in der Lage?  

Prosor: Ich kann nicht kommentieren, was passiert ist. Eines ist klar: Nur Mitglieder der Hisbollah hatten die Möglichkeit, an diese Geräte zu kommen.  

Deshalb halten Sie diese Art der Kriegsführung für legitim?  

Prosor: Die militärische Führung der Hisbollah hat nur eines im Sinn: die Vernichtung Israels. Jeder, der Israel vernichten will, ist für uns ein legitimes Ziel.  

183855_1316_183855_cover.jpg

Israel unter Beschuss: Hisbollahs Feuerlinie

FUNKE Podcasts

Die israelischen Raketenangriffe, die auf die Pager-Explosionen folgten, haben mehrere Hundert Menschen im Libanon getötet. Kommt als nächstes eine Bodenoffensive?  

Prosor: Israel hat den Krieg nicht angefangen. Denken Sie mal nach: Deutschland würde es auch nicht hinnehmen, wenn ständig Raketen auf Berlin, Düsseldorf oder Hamburg niedergehen.

Haben Sie nicht die Sorge, einen großen Krieg mit dem Iran auszulösen?

Prosor: Die Warnungen vor einem Flächenbrand kommen immer erst dann, wenn Israel sich verteidigt. Dabei kommen die Warnungen reichlich spät: Seit dem 7. Oktober steht der Nahe Osten in Flammen. Das ist aber kein Naturereignis, sondern die bewusste Entscheidung unserer Feinde. Der Iran gleicht einem Brandstifter, der vorgibt, bei der Feuerwehr zu sein. Niemand kann erwarten, dass wir stillhalten, wenn unsere Existenz auf dem Spiel steht. 

Also droht die große Eskalation.

Prosor: Das glaube ich nicht. Iran wird sich den nächsten Schritt genau überlegen. Man braucht eine glaubwürdige militärische Abschreckung, um diplomatisch weiterzukommen.  

Lesen Sie hier: Erzfeinde Israel und Iran: Woher der Hass kommt

Fühlen Sie sich von Deutschland ausreichend unterstützt? 

Prosor: Deutschland betont zwar stets Israels Recht zur Selbstverteidigung, scheut sich aber davor, mehr zu tun, wenn es konkret wird. Ein Beispiel: Kurz nach dem Oktober-Massaker hat die UN-Vollversammlung eine Gaza-Resolution verabschiedet, die den Hamas-Terror nicht klar verurteilt und Israels Selbstverteidigungsrecht nicht einmal erwähnt hat. Deutschland konnte sich nicht zu einem Nein durchringen, sondern hat sich enthalten. Jetzt gab es eine weitere katastrophale UN-Resolution, die sich einseitig gegen Israel richtet – und wieder hat sich die Bundesregierung enthalten. An Deutschland habe ich andere Erwartungen. Israel braucht nicht den erhobenen Zeigefinger, sondern echte Unterstützung – gerade dann, wenn Israel bei den UN dämonisiert und delegitimiert wird. Die Bekenntnisse zu Israels Sicherheit dürfen keine leeren Worte bleiben.  

UN-Sicherheitsrat bei der UN-Vollversammlung
Sitzung des UN-Sicherheitsrates: Israel kritisiert Deutschlands Enthaltungen im Gremium. © DPA Images | Michael Kappeler

Wie nehmen Sie die Stimmung in der  deutschen Gesellschaft wahr?  

Prosor: Wir erleben – verstärkt seit dem 7. Oktober – rechten, linken und muslimischen Antisemitismus. Es ist unfassbar, dass Juden in Deutschland wieder Angst haben müssen – nicht nur auf der Straße, wenn Islamisten die Errichtung eines Kalifats fordern, sondern auch an Universitäten und im Kulturbetrieb. Der Berliner Kultursenator Joe Chialo wird angegriffen, weil er sich nicht gegen Israel positioniert. Es ist die Verantwortung der deutschen Regierung, gegen diese Entwicklung vorzugehen – auch mit schärferen Gesetzen. Deutschland darf keine Hemmungen haben, klare Kante zu zeigen. 

Mehr zum Thema Antisemitismus: Judenfeindlichkeit im Hörsaal: „Ich weiß, wo du studierst“

Wie bedrohlich empfinden Sie die Siegesserie der AfD bei den jüngsten Landtagswahlen? 

Prosor: Die Wahlergebnisse sind ein Weckruf für Deutschland selbst. Man muss sich fragen, warum das der Fall ist. Mir liegt es fern, den Deutschen hier Ratschläge zu geben. Die Politik muss Antworten auf die Probleme ihrer Bürger finden – das gilt sowohl für Deutschland als auch für Israel. Aus israelischer Sicht gilt: Wir sprechen nicht mit der AfD. 

Deutschland taumelt – sagt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden. Stimmen Sie zu?  

Prosor: Ich habe Vertrauen in die deutsche Demokratie. Aber man muss gegen ihre Feinde kämpfen. Wer demokratiefeindliche Ideologen verharmlost, darf sich nicht wundern, wenn aus Worten Taten werden.