Kirjat Schmona. Beinahe täglich feuert die Hisbollah Raketen auf Kirjat Schmona ab. Die Bewohner sehnen sich nach Ruhe – und nehmen dafür viel in Kauf.
Die graue Drohne fliegt über den Berghang, wird von einem Abwehrgeschoss getroffen und explodiert in einem Feuerball. Eine grau-weiße Rauchwolke wabert über die Bäume. Uri Levi stoppt das Video. „Das war heute Morgen.“ Immerhin ist Kirjat Schmona, eine 24.000-Einwohner-Stadt im Norden Israels, an diesem Tag ein großer Angriff erspart geblieben.
Am Freitag zuvor hatte die Hisbollah noch Dutzende Raketen auf die Ortschaft abgefeuert. Das war einer der Tage, an denen Uri und seine Frau Rachel viele Stunden im Schutzraum verbringen mussten. Die beiden sind zwei der wenigen Menschen, die in Kirjat Schmona geblieben sind. Im Norden Israels brodelt seit zehn Monaten ein Konflikt, der jederzeit zu einem großen Waffengang eskalieren kann. Der nächste Libanon-Krieg scheint nur eine Frage der Zeit.
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Als die Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres den Süden Israels überfiel, fast 1200 Menschen ermordete und über 200 Geiseln in den Gazastreifen verschleppte, eröffnet die Hisbollah im Norden des Landes eine zweite Front. Die radikalislamische Schiiten-Miliz beherrscht den Süden des Libanon, wie die Hamas wird auch sie vom Iran gesteuert. Hisbollah-Kämpfer schossen Raketen und Granaten auf israelische Dörfer und Kleinstädte nahe der Grenze, die israelischen Streitkräfte antworteten. Seit der Evakuierung der Gemeinden in Grenznähe sind fast 60.000 Israelis Flüchtlinge im eigenen Land. Die größte dieser Gemeinden ist Kirjat Schmona.
Israel: In der Kleinstadt Kirjat Schmona gibt es keine Kinder mehr
Mitte August gleicht Kirjat Schmona einer Geisterstadt. Kaum Autos auf den Straßen, die meisten Geschäfte sind zu, vor Häusern mit geschlossenen Rollläden verdorren die Pflanzen in der sommerlichen Gluthitze. Grüne Linienbusse fahren ohne Passagiere. Es ist gespenstisch still. Von den etwa 24.000 Einwohnern sind gerade einmal 2000 geblieben. An der HaYarden-Straße steht in einem Hof ein ausgebranntes rostbraunes Autowrack, das Haus daneben ist eine Ruine.
An etlichen Gebäuden klaffen in den Wänden Einschlaglöcher von Schrapnellen. Manche Fenster sind zersplittert, andere mit Sperrholz verrammelt. Bis zu 1000 Raketen sollen in den vergangenen Monaten auf die Stadt abgeschossen worden sein, berichtet die Stadtverwaltung. Uri Levi (60) und seine Frau Rachel (50) sind trotzdem geblieben. „Es ist nicht einfach hier, aber das ist unser Zuhause“, sagt Rachel. Sie sitzt mit ihrem Mann im Wohnzimmer des Hauses, in dem sie seit über dreißig Jahren leben.
Im Fernsehen läuft eine Sendung des Nachrichtenkanals 12. Der Korrespondent steht auf einer Anhöhe über Kirjat Schmona und berichtet von der Drohnenattacke am Morgen. Rachel vermisst das Lachen der Kinder, die auf dem Spielplatz gegenüber von ihrem Haus gespielt hatten. Es gibt keine Kinder mehr in der Stadt.
Seit Anschlag auf Kopf der Hisbollah schlafen die Uris im Schutzraum
Bis zur Grenze hinter dem Berg sind es hier etwa zwei Kilometer Richtung Westen, knapp fünf Kilometer Richtung Norden. Seit der Gründung der Stadt vor 75 Jahren ist sie immer wieder attackiert worden. Kirjat Katjuscha nennen manche Israelis sie – nach den Raketen, die die Hisbollah früher nutzte. Heute attackiert die Miliz mit stärkeren Geschossen. „Sie greifen jetzt mit Drohnen und Burkan-Raketen an, das ist beängstigender als 2006“, erzählt Rachel. 2006 war das Jahr, in dem die israelischen Streitkräfte zuletzt in den Libanon einmarschierten.
Jetzt scheint der nächste Krieg kurz bevor zu stehen. Viele israelische Politiker und Militärs drängen auf den Einsatz von Bodentruppen, um die Hisbollah hinter den Litani-Fluss zurückzudrängen, der 30 Kilometer nördlich der Grenze verläuft. Sie argumentieren, es sei nicht hinnehmbar, dass so viele Israelis als Binnenvertriebene leben und verweisen auf die UN-Resolution 1701, in der eine demilitarisierte Zone im Südlibanon verlangt wird. Gleichzeitig ignoriert Israel jedoch selbst zahlreiche UN-Resolutionen, die sich gegen die Besatzungspolitik oder den Gaza-Krieg richten.
Auch Rachel Levi ist für eine Bodenoffensive: „Wir müssen in den Krieg ziehen.“ Die Menschen würden erst dann in die Dörfer und Städte in Grenznähe zurückkehren, wenn die militärische Infrastruktur der Hisbollah im Südlibanon zerstört sei, glaubt auch ihr Mann. Der gegenseitige Beschuss an der Grenze hat seit dem 30. Juli zugenommen. An diesem Tag tötete eine israelische Rakete in der libanesischen Hauptstadt Beirut den Hisbollah-Kommandanten Fuad Schukr. Mit ihm starben fünf Zivilisten. Die Hisbollah hat Rache geschworen. „Jetzt schlafen wir jede Nacht im Schutzraum“, erzählt Uri.
Rettungssanitäterin Yovel: „Wir haben genügend Ausrüstung und Leute“
Zwischen Oktober 2023 und dem 12. August sollen nach Angaben der israelischen Denkfabrik Alma auf libanesischer Seite 527 Menschen getötet sein, 463 von ihnen Kämpfer der Hisbollah oder anderer militanter Gruppen. Im Norden Israels sind bislang 25 Zivilisten und 20 Soldaten gestorben. Yovel Levi (28) hat am 30. Juli einen dieser Todesfälle erlebt. Sie ist Rettungssanitäterin in Kirjat Schmona – wenn geschossen wird, muss sie mit ihren Kollegen im gepanzerten Krankenwagen rausfahren, immer dabei einen Helm und eine Schutzweste. Vor zwei Wochen wurden sie nach HaGoshrim gerufen, ein Dorf westlich der Stadt.
„Bei einem Bombardement war ein Mann getroffen worden, der mit seinem Hund spazieren gegangen ist“, erinnert sich Yovel. „Er hatte Schrapnelle im Gesicht und im Oberkörper. Ich konnte nur seinen Tod feststellen.“ Sie war auch in Madschal Schams, jenem Drusendorf in den besetzten Golanhöhen, in dem am 27. Juli zwölf Kinder auf einem Fußballplatz starben. „Einer der Sanitäter hat seine tote Tochter gesehen. Er hat weitergearbeitet und anderen Kindern geholfen.“ Auch Yovel glaubt, die einzige Möglichkeit, Ruhe in der Grenzregion zu bekommen, sei es, die Hisbollah hinter den Fluss zurückzutreiben. „Wenn der große Krieg beginnt, sind wir vorbereitet. Wir haben genügend Ausrüstung und Leute.“
In Tel Aviv ist der Krieg noch weit weg und die Strände voller Menschen
Zweieinhalb Stunden Autofahrt südlich von Kirjat Schmona ist Osnat Mordechai mit ihrer Familie in einem Hotel in Tel Aviv untergekommen, die Regierung bezahlt die Unterkunft. Sie ist 64, pensionierte Lehrerin. Nach dem Überfall der Hamas auf den Süden Israels brachte sie sich mit der Familie in ihrem Schutzraum in Sicherheit. „Wir hatten Angst, dass das, was in Sderot geschehen ist, auch bei uns geschehen könnte.“ In die Kleinstadt nahe dem Gazastreifen waren am 7. Oktober Hamas-Kommandos eingedrungen und hatten vierzig Zivilisten getötet.
Erst nach drei Tagen intensiver Gefechte konnten die Angreifer aus Sderot vertrieben werden. „Wir wussten, dass die Hisbollah ähnliche Tunnel wie die Hamas hat, über die sie uns hätten angreifen können.“ Nach mehreren Tagen im Bunker entschied sich die Familie zur Flucht. „Wir haben es einfach nicht mehr ausgehalten.“ Osnat Mordechai sagt, sie und ihre Familie seien noch unter den Glücklicheren der Flüchtlinge aus dem Norden. Ihre Kinder haben Arbeit gefunden.
Tel Aviv, sagt Mordechai, sei schön, sie liebe die Küstenmetropole, in der der Krieg so weit entfernt scheint und die Strände auch in diesen Tagen voller Menschen sind. „Aber wir vermissen unser Zuhause. Wir vermissen die tägliche Routine, unsere Küche, unseren Garten. Wir vermissen unser altes Leben.“ Doch der Gedanke an einen großen Krieg macht ihr keine Angst. „Wir haben eine starke Armee. Wir sind ein starkes Land.“
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