Berlin. Die Ampel-Koalition in der Krise: Gibt es Neuwahlen? Kommt eine Minderheitsregierung? Übernimmt Merz? Die Szenarien für das Ampel-Aus.

Die Ampel-Koalition schaut in den Abgrund: Kann sie ihre Streitigkeiten doch noch überwinden und ihr Überleben bis zur Bundestagswahl im September 2025 sichern? Oder bricht sie jetzt auseinander, gibt es vorgezogene Neuwahlen? Während die Koalitionsspitzen unter Hochdruck beraten, erörtern Strategen der Ampel-Parteien und der Opposition längst die nächsten Schritte: Wie kann es in der Praxis zum Ampel-Aus kommen, wer kann den Todesstoß setzen – mit Absicht oder aus Versehen? Die sieben Wege und wie wahrscheinlich sie sind. 

1. Scholz leitet Neuwahlen ein

Aus Sicht vieler Ampel-Kritiker die beste, weil einfachste Variante. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) müsste zum Schluss kommen, dass seiner Regierung die Kraft für wichtige Entscheidungen fehlt – dann würde er im Bundestag die Vertrauensfrage stellen und absichtlich verlieren. Anschließend kann der Bundespräsident innerhalb von 21 Tagen den Bundestag auflösen, es käme zu Neuwahlen spätestens 60 Tage nach der Parlamentsauflösung; bis dahin würde die Regierung auf Ersuchen des Bundespräsidenten die Amtsgeschäfte weiterführen. Der Bundespräsident kann sich theoretisch auch weigern, Neuwahlen auszurufen, um eine andere Lösung zu erzwingen, aber angesichts der Stimmung im Land ist das unwahrscheinlich. Es gibt bereits einen Wahltermin, der sondiert wird: Der 9. März 2025. Drei Kanzler - Willy Brandt 1972, Helmut Kohl 1982 und Gerhard Schröder 2005 - haben das Manöver vorgemacht. Ziel: Ein starkes Wählervotum bei erzwungenen Neuwahlen, um mit neuer Kraft weiterzuregieren. Brandt und Kohl waren erfolgreich, Schröder verlor knapp. Allerdings gab es jedes Mal Kritik von Verfassungsrechtlern. Diesmal haben eigentlich alle drei Koalitionspartner wenig Hoffnung, dass sie bei raschen Neuwahlen erfolgreich abschneiden.

Scholz winkt auch schon ab: „Ich bin der Kanzler. Es geht darum, dass wir in ernsten Zeiten die Herausforderungen bewältigen, vor denen wir stehen“, sagt er jetzt. „Es geht um Wirtschaft und Arbeitsplätze. Es geht um Pragmatismus und nicht um Ideologie.“ Alle müssten jetzt seriös an der Lösung der Aufgaben arbeiten. Der Kanzler will Zeit gewinnen, hofft auf eine Stimmungswende bis zur regulären Wahl im September 2025. Vertraute sagen zu seinem Kalkül, in einem knappen Jahr könne innen- und außenpolitisch viel passieren. Und ein Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz könne bis dahin noch viele Fehler machen.

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2. Minderheitsregierung statt Ampel

Ein relativ wahrscheinliches Szenario: Die Ampel zerstreitet sich an einem zentralen Thema, ein Koalitionspartner verlässt daraufhin die Koalition – aller Voraussicht wäre das die FDP, die es womöglich genau darauf anlegt. Das von FDP-Chef Christian Lindner präsentierte Wirtschaftspapier könnte die Vorlage sein. Wenn aus Sicht der Liberalen SPD und Grüne nicht ausreichend auf die FDP-Forderungen für eine Kursänderung eingehen, könnte Lindner aus „Verantwortung für das Land“ aus der Regierung aussteigen. Weitere Ausstiegsmöglichkeiten: Der Bundeshaushalt für 2025, über den sich die Koalitionäre bis zum Donnerstag, 14. November, oder Freitag, 15. November, geeinigt haben müssen. Dann findet die sogenannte Bereinigungssitzung im Haushaltsausschuss des Bundestages statt, in der über noch offene Punkte im Etat verhandelt und abgestimmt wird.

Oder es kommt zum Zerwürfnis über das Rentenpaket, das ein Herzensanliegen der SPD ist, auch mit Blick auf den nächsten Wahlkampf. Die Blockade wäre für führende Genossen eine rote Linie, das deutet nun auch der Kanzler an. Denkbar wäre auch, dass die FDP demonstrativ ausschert und gegen den Kurs der Ampel im Bundestag für populäre Vorschläge der Opposition stimmt, um sich besser für Neuwahlen zu positionieren. In allen Varianten könnte die FDP von selbst gehen oder es darauf anlegen, dass der Kanzler sie rauswirft. Lindner soll Scholz schon vor Monaten im Haushaltsstreit genau auf diesen Weg verwiesen haben: „Dann musst du mich entlassen“.  

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Scholz könnte dann mit den Grünen in einer Minderheitsregierung weiter arbeiten. Aber ob die Grünen der untergehenden SPD die Stange halten würden? Und unklar, ob Union oder FDP bei dringlichen Entscheidungen die Hand reichen würden. Scholz könnte das Experiment womöglich nicht lange durchhalten, die Bundestagswahlen müssten am Ende so oder so vorgezogen werden. 

3. Wenn die Vertrauensfrage scheitert

In der SPD kursiert die Idee, der Kanzler solle alles auf eine Karte setzen und Führungsstärke demonstrieren: Mit einer Vertrauensfrage im Bundestag, die er gewinnen will. Vorbild wäre Gerhard Schröder. Im Herbst 2001 gab es in der rot-grünen Koalition Bedenken gegen die Bundeswehr-Teilnahme am amerikanischen Anti-Terroreinsatz in Afghanistan – Sozialdemokraten schwankten, acht Grüne drohten mit Nein. Schröder verband die Abstimmung über das Bundeswehr-Mandat mit der Vertrauensfrage, um Regierungsfähigkeit zu demonstrieren und „das Heft des Handelns in der Hand zu behalten“, wie er sagte. Er gewann die brutale Machtprobe und ein Jahr später die Bundestagswahl.

Scholz müsste für ein solches Manöver ein großes Thema aufrufen: Etwa einen neuen Milliardenfonds für Sicherheit oder eine Wirtschafts- und Investitionswende. Doch dafür ist das Misstrauen in der Ampel wohl schon zu groß: Was, wenn er verliert? Die Ampel wäre am Ende, Neuwahlen wären wahrscheinlich. Die Union drängt den Regierungschef dennoch zur Vertrauensfrage, der winkt ab.

Bundestag Schröder Fischer
Vertrauensfrage überstanden: Dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD, rechts im Bild) gratuliert Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) mit Händedruck. Im Bundestag hatte Schröder 2001 die Abstimmung über einen Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr mit der Vertrauensfrage verbunden. © picture-alliance / dpa/dpaweb | Peter_Endig

4. Pistorius für Scholz

In der SPD werden Stimmen laut, Scholz solle den Rückzug einleiten und die Kanzlerkandidatur Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) überlassen. Aber: Ein Jahr Hängepartie wäre zu lang, Pistorius müsste für gute Wahlchancen schon jetzt ins Kanzleramt einziehen.

Riskant: Selbst wenn die Spitzen von FDP und Grünen den Wechsel absegnen – in geheimer Abstimmung könnten frustrierte Abgeordnete ihre Zustimmung verweigern. Scheitert das Manöver, wären Neuwahlen wahrscheinlich. Der Kanzler lehnt sowieso ab: „Boris Pistorius will, wie viele andere, dass ich wieder als Kanzler antrete. Ich sehe das genau so.“

5. Stürzt Merz den Kanzler?

Die Union kann versuchen, den Kanzler mit einem konstruktiven Misstrauensvotum zu stürzen, muss dafür aber einen eigenen Kandidaten vom Bundestag wählen lassen. In der Bundesrepublik gelang das bisher nur einmal: Am 1. Oktober 1982 löste Helmut Kohl (CDU) SPD-Kanzler Helmut Schmidt ab, nachdem Schmidts Koalitionspartner FDP die Seiten gewechselt hatte.

Diesmal müssten neben der FDP auch die Grünen einen Deal mit der Union machen und ihren Kanzlerkandidaten wählen. Im Erfolgsfall könnten sie noch ein Jahr als Jamaika-Koalition weiterregieren – Fortsetzung nach der Bundestagswahl möglich. Das Problem der Union: Im Bundestag ist die CDU/CSU derzeit schwächer als die SPD, in Umfragen viel stärker. Merz setzt daher klar auf Neuwahlen, versichert die CDU-Spitze. Außerdem: Können FDP und Grüne das Wagnis eingehen? Würden sie sich überhaupt in einer neuen Koalition zusammenraufen? Schwierig. Wahrscheinlichkeit: sehr gering.

CDU/CSU Klausurtagung
CDU-Chef Friedrich Merz: Der Oppositionsführer setzt auf Neuwahlen, ein vorzeitiger Regierungswechsel würde für die Union zum Risiko. © DPA Images | Michael Kappeler

6. Söder-Idee: Große Koalition

Die Idee hat vor einiger Zeit der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) lanciert: Grüne und FDP raus, die Union rein als Juniorpartner in einer „Regierung der nationalen Vernunft“. Aber in der CDU-Zentrale schütteln sie nur den Kopf: Warum sollte sich die Union der SPD jetzt unterordnen und damit ihren Wahlkampf für die Bundestagswahl 2025 enorm erschweren?

CDU-Chef Friedrich Merz hat solche Gedankenspiele bereits zurückgewiesen. Viel lieber schaut sie der Ampel beim Sterben zu. „Die Ampel muss jetzt staatspolitische Verantwortung übernehmen, nämlich die Sache zu beenden“, sagt CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Deutschland brauche einen Neustart. Verwegene denken schon an ein anderes Modell: Die SPD würde sich als Juniorpartner in eine Große Koalition retten. Nicht mit Scholz, sondern mit Pistorius. Auch diese Idee hat Söder schon ventiliert – allerdings für die Zeit nach der Bundestagswahl. Dann kann es so kommen, vorher sicher nicht.

Viel lieber schaut sie der Ampel beim Sterben zu. Verwegene denken schon an das umgekehrte Modell: Die SPD würde sich als Juniorpartner in eine Große Koalition retten. Nicht mit Scholz, sondern mit Pistorius als Vizekanzler. Auch diese Idee hat Söder schon geäußert – allerdings für die Zeit nach der Bundestagswahl. Dann kann es so kommen, vorher nicht.

7. Ampel-Aus erst in einem Jahr

Wenn alle drei Koalitionspartner es wollen, endet die Ampel wahrscheinlich erst nach der Bundestagswahl am 28. September 2025. Neuauflage ausgeschlossen. Viel wird die Koalition nicht mehr liefern können – und die Stimmung im Land steht gegen die Ampel. Panikreaktionen sind absehbar. Ob die Ampel-Abgeordneten die Nerven behalten? Die Alternativen sind für die drei Parteien nicht attraktiv, aber der Willen zum Durchhalten wird von Tag zu Tag geringer.