Düsseldorf. Nicht immer wird rechtsextreme Gewalt von der Polizei als solche einsortiert. Ein bemerkenswertes Projekt brachte neue Erkenntnisse.

Egon E. starb als Zufallsopfer und wurde zur Karteileiche. „Zur falschen Zeit am falschen Ort“, wie es im Polizei-Deutsch gelegentlich etwas fatalistisch heißt.

Der 58-jährige Frührentner war am 17. März 1999 in Duisburg überfallen worden. Drei Skinheads aus der Hooligan-Szene legten ihm eine Schlinge um den Hals und schleiften ihn durch einen Park. Zunächst überlebte E., weil die Täter weiterzogen und andere Passanten attackierten. Doch sie kehrten zurück, um ihr grausames Werk zu vollenden. Der Frührentner erlag schwersten Verletzungen durch Tritte, sein Kehlkopf wurde zerquetscht.

Ein Vierteljahrhundert später haben der Politikwissenschaftler Jonathan Widmann und der Kriminalist Torben Huckenbeck zusammen mit einem elfköpfigen Team beim Düsseldorfer Landeskriminalamt (LKA) 30 solcher „Grenzfälle“ aus den vergangenen 40 Jahren noch einmal analysiert. Immer ging es darum: War die Gewaltausübung wirklich „blind“ und die Auswahl des Opfers „zufällig“? In sieben Fällen mussten sie die Statistik korrigieren.

Ausgangspunkt für Motivsuche war der Dreifach-Mord von Overath von 2003

Dahinter steckte die Vermutung, dass Taten in polizeilichen Statistiken häufiger als nicht rechtsextremistisch motiviert erfasst sind, obwohl die Öffentlichkeit einen solchen Hintergrund schon damals für offensichtlich hielt. Das Projektteam um Widmann und Huckenbeck wollte dieser „Bewertungsdiskrepanz“ bei besonders prominenten Verbrechen systematisch nachspüren.

Angestoßen wurde die besondere Aufarbeitung durch einen Dreifach-Mord in Overath aus dem Jahr 2003, der erst nachträglich als rechtsextreme Tat klassifiziert wurde. Ein Neonazi hatte einen Anwalt und dessen Familie erschossen. Der verschuldete Mann machte den Juristen dafür verantwortlich, dass er seinen Hof verloren hatte. Obwohl das Landgericht Köln NS-Fantasien bei der Tatausübung erkannt hatte, führte die NRW-Polizei den Dreifach-Mord jahrelang nicht als rechtsextremes Tötungsverbrechen.

Innenminister Herbert Reul (CDU) macht bei der Vorstellung des Projekts am Dienstag deutlich, dass eine solche Selbstvergewisserung vor allem ohne die NSU-Mordserie gar nicht denkbar gewesen wäre. Die Tötung von Menschen mit Migrationshintergrund, zunächst als „Döner-Morde“ diffamiert, habe man fälschlicherweise als „Milieutaten“ behandelt, sagt Reul. Damals habe man gelernt, „dass ein zweiter Blick mehr offenbart als der erste“.

NRW wirbt für genaueres Erfassungssystem bei rechtsmotivierten Straftaten

Nach Auswertung der Prozessakten im Fall Egon E. ist die Projektgruppe etwa zur Einschätzung gelangt, dass der Duisburger sehr wohl als Opfer rechter Gewalt hätte eingruppiert werden müsse. Er sei ein „Zufallsopfer stellvertretend für die Schwachen“ gewesen, das zeige der Tathergang. Wann ist ein Verbrechen rechtsextrem motiviert? „In dem Moment, in dem ein Täter meint, sein Opfer ist unwert zu leben“, erklärt Widmann.

LKA-Chef Ingo Wünsch stellt klar: „Es geht nicht um die Tatklärung, sondern um die Klärung der Motivlage.“ Es sei kein Neuaufrollen der Fälle gewesen, sondern die Überprüfung der richtigen Einordnung des Hintergrunds. Oft sei es „keine einfache Kost, zu einer Bewertung zu kommen“, berichtet Huckenbeck. Die teilweise emotionalen Reaktionen der Hinterbliebenen, die in den vergangenen Wochen Besuch von der Polizei erhielten, sollen jedoch allen Beteiligten gezeigt haben, wie wichtig auch nach langer Zeit die Aufhellung eines Verbrechensmotivs ist.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU, r) und Ingo Wünsch, Direktor des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen, am Dienstagnachmittag im Düsseldorfer LKA.
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU, r) und Ingo Wünsch, Direktor des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen, am Dienstagnachmittag im Düsseldorfer LKA. © dpa | Federico Gambarini

Außerdem will NRW das bundesweite polizeiliche Definitions- und Erfassungssystems in Fällen der politisch motivierten Kriminalität weiterentwickeln. Entscheidungen der Staatsanwaltschaft oder eines Gerichts müssten künftig stärker in die Bewertung einfließen. Huckenbeck spricht von „Diskussionsbedarf“. Aus der Statistik ergäben sich schließlich auch strategische Schwerpunkte der Kriminalitätsbekämpfung.

NRW-Innenminister Reul rät zur Wachsamkeit im Umgang mit rechter Gewalt

Zugleich ist Politikwissenschaftler Widmann davon überzeugt, dass sich seit den 90er Jahren einiges getan hat im polizeilichen Umgang mit möglichen rechtsextremen Gewaltverbrechen: „Die Wahrnehmung hat sich geändert, auch bei der Polizei.“ Die Projektgruppe warnt in ihrem Abschlussbericht vor übertriebenen Ansprüchen an die Erfassung: Man werde „niemals abschließend alle erdenklichen Straftaten realitätsgetreu mittels eines Kategorie-basierten Definitions- und Erfassungssystems“ abbilden können.

„Mit dem Projekt zeigt die Polizei NRW einmal mehr, dass sie selbstkritisch ist“, lobt Reul und schaut sorgenvoll auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart. „Gerade in diesen Tagen, wo wir Wahlerfolge von Parteien sehen, die es vor wenigen Jahren noch nicht gab. Gerade jetzt müssen wir uns mit dem Treiben am rechten Rand ganz besonders beschäftigen und wachsam sein.“