Berlin. Tausende Menschen fliehen vor den Kämpfen, der Gouverneur sendet Bilder der Zerstörung. Nun äußert sich auch Russlands Präsident.
Seit Monaten versucht die Ukraine, den Krieg nach Russland hineinzutragen – mal mit Drohnen und Raketen, mal mithilfe von russischen Partisanen. Jetzt sind die Ukrainer unverhohlen zu einem Angriff übergegangen: Aus der Grenzregion Kursk werden Kampfhandlungen gemeldet. Kremlchef Wladimir Putin zeigt selten Schwäche. Aber diesmal macht er keinen Hehl daraus, dass die Attacke ihn überrascht und genervt hat. Er sprach von einer „großen Provokation“.
Über die Zahl der ukrainischen Soldaten, die an dem Angriff beteiligt sind, gibt es unterschiedliche Angaben. Zunächst hieß es, dass schon am Dienstag rund 300 ukrainische Soldaten in die Region eingedrungen seien. Nun spricht der russische Generalstab von „bis zu 1000“ Soldaten. „Das tiefe Vorrücken des Feindes auf das Gebiet wurde durch Schläge der Luftwaffe und der Artillerie gestoppt“, erklärte Generalstabschef Waleri Gerassimow bei einem im russischen Fernsehen übertragenen Treffen mit Putin.
Russische Militärblogger behaupteten, die Ukrainer hätten aus zwei Richtungen angegriffen. In Moskau bestätigten sowohl das Verteidigungsministerium als auch der Inlandsgeheimdienst FSB mehrere Überfälle mit elf Panzern und mehr als 20 gepanzerten Kampffahrzeugen.
Ukraine greift Russland an – trotzdem alles „unter Kontrolle“?
Gouverneur Alexei Smirnow sagte, er habe Putin über die Situation informiert, die im Übrigen unter Kontrolle sei. Gleichwohl wurden mehrere Flugwarnungen herausgegeben, Veranstaltungen abgesagt und die Bürger darum gebeten, möglichst zu Hause zu bleiben. Die Behörden sprechen von Dutzenden Verletzten und mindestens drei Toten. Tausende sind geflohen.
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Wie weit die ukrainischen Soldaten vorgedrungen sind, lässt sich nicht verifizieren. In Moskau hieß es zunächst, der Versuch, die Grenze zu durchbrechen, sei gescheitert. Inzwischen ist nur noch davon die Rede, dass man ein tiefes Eindringen auf russisches Staatsgebiet verhindert habe. Russische Blogger wollen wissen, dass die Kämpfer mindestens zehn Kilometer weit gekommen sind.
Russische Bodengewinne relativiert
In Kiew schweigt die Regierung zu den Berichten. Im TV-Sender Nexta bezeichnete ein ukrainischer Oberst den Angriff als „Präventionsmaßnahme“, weil die Russen schätzungsweise 75.000 Soldaten nahe der Grenze zusammengezogen hätten. Soll heißen: Bevor die Russen angreifen, übernimmt lieber die Ukraine die Initiative.
Auch wenn die Kämpfe die ganze Nacht andauerten, ist nicht damit zu rechnen, dass die Ukrainer versuchen werden, ihre Stellung zu halten. Solche Manöver haben den Zweck, mit Nadelstichen den Gegner zu verunsichern und möglichst viele seiner Kräfte zu binden. Damit will man für Entlastung sorgen, Zeit gewinnen und vor allem Putin reizen.
Nach eigenem Selbstverständnis führt er in der Ukraine keinen Krieg, sondern eine „Spezialoperation“. Er hat bisher eine Mobilmachung gescheut. Für die meisten Russen ist der Krieg in der Ukraine weit weg. Er betrifft sie nicht. Jedes Mal, wenn sie Russland angreifen, zum Beispiel auf der Krim, verstärken die Ukrainer jedoch das Gefühl der Unsicherheit bei den russischen Bürgern. Außerdem werden vermeintliche Erfolgsmeldungen konterkariert.
Putins Rendezvous mit der Realität
Erst am Dienstag hatte der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, der ehemalige Verteidigungsminister Sergej Schoigu, erklärt, dass russische Streitkräfte seit dem 14. Juni 2024 etwa 420 Quadratkilometer ukrainisches Territorium erobert hätten. Das US-Institute for the Study of War hat nach eigenen Angaben Beweise dafür, dass es sich tatsächlich nur um rund 290 Quadratkilometer handelt.
Anderen Quellen zufolge haben die Russen in der nun neun Monate andauernden Donbass-Offensive rund 900 Quadratkilometer erobert – ein winziger Anteil der ukrainischen Staatsfläche. Es sind relativ kleine Gebietsgewinne für einen hohen Preis. Laut dem britischen Geheimdienst hat Putin allein im Mai und Juni rund 70.000 Soldaten verloren.
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Erst Mitte Juni hatte der russische Machthaber Friedensverhandlungen davon abgängig gemacht, dass die Ukraine Gebiete abtritt. Seine Offensive ist auch der Versuch, Fakten zu schaffen, bevor die Kampfhandlungen im Herbst und Winter an Dynamik verlieren, und sich damit eine bessere Ausgangslage für Verhandlungen zu schaffen. Angriffe der Ukraine auf Russland sind für den Kremlchef ein äußerst missliches Rendezvous mit der Realität.