Berlin. Großbritannien erlebt heftige Auseinandersetzungen zwischen Rechtsextremen und Polizei. Warum die Eskalation? Wichtige Fragen und Antworten.

Die schweren Ausschreitungen in Großbritannien nach dem tödlichen Messerangriff auf Kinder, bei dem drei Mädchen ums Leben kamen, halten an. Die Polizei nahm bei den rechtsradikalen Protesten inzwischen mehr als 250 Personen fest. Premierminister Keir Starmer kündigt rechtliche Konsequenzen an und will hart durchgreifen. Unsere Redaktion beantwortet die wichtigsten Fragen.

Was ist passiert?

Vergangenen Montag sind in der nordenglischen Stadt Southport drei Mädchen im Alter von sechs, sieben und neun Jahren bei einem Messerangriff getötet worden. Acht weitere Kinder und zwei Erwachsene wurden teils schwer verletzt. Die Kinder hatten an einer Ferienfreizeit teilgenommen, die sich um Taylor Swift drehte. Sie wollten lernen, so zu tanzen wie ihr Idol. Tatverdächtig ist ein 17-Jähriger, den die Polizei wenig später festnahm. Der Angriff werde nicht als terroristisch eingestuft, teilte die Polizei mit. Doch das Motiv ist weiter ungeklärt. Die Attacke versetzte die ganze Stadt in einen Schockzustand. Am Dienstag legten zahlreiche Menschen Blumen am Tatort nieder und versammelten sich zu einer Schweigeminute und einer Mahnwache.

Was weiß man über den mutmaßlichen Täter?

Bei dem Festgenommenen soll es sich um einen 17-jährigen Jugendlichen handeln, der in Wales geboren wurde. Nach Informationen britischer Medien sollen seine Eltern aus Ruanda stammen, wo fast alle Einwohner christlichen Glaubens sind. Da der mutmaßliche Täter minderjährig ist, hat er ein Anrecht auf Anonymität, nur ein Richter kann entscheiden, ob sie aufgehoben wird.

Wie kam es zu den Ausschreitungen?

Schon am Dienstagabend, keine 36 Stunden nach der Mordattacke in Southport, fielen Hunderte gewalttätige Rechtsradikale in den trauernden Ort ein und gingen auf Polizisten los. Sie grölten: „Fuck Islam“ und Parolen wie: „Wir wollen unser Land zurück“. Die Randalierer zündeten einen Polizeilaster an, plünderten einen Laden und bewarfen die Sicherheitskräfte mit Steinen und Flaschen. Zahlreiche Polizisten wurden verletzt.

Ein Auto brennt, nachdem es während einer Anti-Einwanderungsdemonstration in Middlesbrough umgeworfen wurde.
Ein Auto brennt, nachdem es während einer Anti-Einwanderungsdemonstration in Middlesbrough umgeworfen wurde. © DPA Images | Owen Humphreys

Der Gewaltwelle war eine Desinformationskampagne in den sozialen Medien vorausgegangen. Unter anderem hieß es, der Angreifer stamme aus Syrien, er sei als Flüchtling mit dem Boot über den Ärmelkanal ins Land gekommen und Moslem. Wieder andere behaupteten, die Behörden würden diese Informationen über den Täter unter Verschluss halten. Die Falschinformationen verbreiteten sich über die sozialen Medien wie ein Lauffeuer. Im Laufe der Woche kam es in zahlreichen Städten zu Gewaltausbrüchen und Übergriffen auf Polizeigebäude und Moscheen.

Am Sonntag eskalierte die Gewalt, als der rechte Mob versuchte, ein mutmaßlich als Asylunterkunft genutztes Hotel im nordenglischen Rotherham zu stürmen. Sie drangen in das Gebäude ein, legten Feuer, schlugen Fensterscheiben ein. Eine Kette aus Polizisten mit Schutzschilden stellte sich einem Hagel von Wurfgeschossen entgegen und drängte die aufgebrachte Meute schließlich zurück. Ähnliche Szenen spielten sich am Abend bei einem Hotel in Tamworth nahe Birmingham ab. 

Neue Unruhen in Großbritannien nach Messerattacke auf Kinder in Southport

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    Wer steht hinter den Ausschreitungen?

    Die Polizei geht inzwischen von gezielten ultranationalistischen Angriffen aus. Die Leitende Polizeikommissarin der Region Merseyside, Emily Spurrell, erklärte vor wenigen Tagen, es sei sehr wahrscheinlich, dass die rechtsextreme Gruppierung English Defence League (EDL) für die Ausschreitungen verantwortlich ist. Diese habe „dieses unglaublich tragische Ereignis genutzt, um Hass zu schüren und Gewalt anzuzetteln“. Die EDL, die sich 2009 formierte, ist ein Sammelbecken für rechtsextremen Aktivismus und islamophobe Straßengewalt in England. Bei den Ausschreitungen skandierte der Mob immer den Namen des früheren EDL-Chefs Tommy Robinson.

    Auch in Nottingham kam es zu gewaltsamen Protesten von Rechtsextremen.
    Auch in Nottingham kam es zu gewaltsamen Protesten von Rechtsextremen. © AFP | Darren Staples

    Wer ist dieser Tommy Robinson und welche Rolle spielen die Rechtsextremisten in England?

    Tommy Robinson ist ein Pseudonym, unter dem Stephen Christopher Yaxley-Lennon bekannt ist. Er war einst Mitglied der rechtsextremen „Britischen Nationalpartei“ (BNP), hängt der identitären Bewegung an und ist einer der berüchtigtsten Rechtsextremen des Landes. Er suchte seine Anhänger in der islamfeindlichen, mit sich und dem Leben unzufriedenen weißen Arbeiterschicht und sprach auf Pegida-Demonstrationen in Dresden.

    Die Gruppierung ist heute eine Mischung aus rechtsextremen Aktivisten, Fußball-Hooligans und Skinheads. Ihr Ziel ist ein weißes, nationalistisches Großbritannien. Und die Krawalle zeigen, wie stark der Rechtsextremismus in Großbritannien geworden ist. Yaxley-Lennon, der zahlreiche Vorstrafen hat, wird derzeit per Haftbefehl gesucht und soll ins Ausland geflohen sein.

    Welche Rolle spielen das Internet und die sozialen Medien?

    Eine entscheidende Rolle. Die Gewaltexplosionen wurden gezielt durch in sozialen Medien gestreute Desinformationen über einen angeblichen islamistischen Hintergrund der Bluttat ausgelöst. Schon kurz nach dem Anschlag begannen Social-Media-Konten, hetzerische Spekulationen zu verbreiten.

    Die Plattform X (vormals Twitter), die dem US-Milliardär und Donald-Trump-Anhänger Elon Musk gehört, spielte eine Schlüsselrolle. Sie erwies sich als effektive Desinformationsschleuder. Der erste Post mit der Nachricht, dass der Verdächtige „angeblich ein muslimischer Einwanderer ist“, kam nach Recherchen der britischen Zeitung „The Guardian“ von einem Account namens „Europe Invasion“ über die Plattform X. Der Beitrag wurde in kurzer Zeit 6,7 Millionen Mal angesehen.

    Die Zeitung zitiert Marc Owen Jones, außerordentlicher Professor an der Hamad Bin Khalifa Universität in Katar, dass es mindestens 27 Millionen Beiträge auf X gab, in denen spekuliert wurde, dass es sich bei dem Angreifer um einen Muslim, Migranten oder Flüchtling handelte. Auch auf anderen Social-Media-Plattformen verbreiteten sich die Falschnachrichten rasant. Stephen Christopher Yaxley-Lennon alias Tommy Robinson spielte ebenfalls eine Rolle. Er postete auf X: Die „Wut der Randalierer“ sei gerechtfertigt. Sein Konto war viele Jahre gesperrt. Erst nachdem Musk die Plattform gekauft hatte, wurde es wieder freigeschaltet. Die zunehmende Nachlässigkeit bei vielen sozialen Medien im Umgang mit Hassrede habe die Verbreitung von Unwahrheiten erleichtert, schreibt das Magazin „The Economist“.

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    Heizen auch Politiker die Stimmung an?

    Ja. Der rechtspopulistische Abgeordnete Nigel Farage von der Partei Reform UK, der in Europa vor allem als „Mister Brexit“ bekannt ist, spekulierte kurz nach dem Angriff auf der Plattform X, dass die Behörden „die Wahrheit von uns zurückhalten“. Damit untergräbt ein gewählter Abgeordneter die Glaubwürdigkeit von Polizei und Justiz.

    Was plant die britische Regierung?

    Die rechtsextremen Krawalle und Ausschreitungen sind eine erste, schwere Bewährungsprobe für den neuen Premier Keir Starmer. Die Labour-Regierung hat einen Krisenstab einberufen, zu dem nicht nur Starmer und die zuständigen Minister, sondern auch Vertreter der Polizei gehören. Der Regierungschef kündigte schnelle, harte Strafen an: „Ich garantiere Ihnen, Sie werden es bereuen, an diesen Unruhen teilgenommen zu haben“, sagte er an Randalierer und Scharfmacher gerichtet.

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