Jerusalem. Nach dem Tod von Hamas-Führer Ismail Hanija hat das Regime in Teheran Vergeltung angekündigt. Am Freitag könnte die Entscheidung fallen.

Zwei Stunden nach Mitternacht erreichte das tödliche Geschoss sein Ziel: Nach iranischen Angaben wurde Hamas-Führer Ismail Hanija am frühen Mittwochmorgen „von einem Gegenstand aus der Luft“ getroffen. Kurze Zeit später meldete ein Hamas-Sprecher den Tod des Anführers. Eine Rakete hatte eine Residenz im Zentrum von Teheran getroffen, in die der Mitgründer der Terrororganisation gerade erst zurückgekehrt war. Hanija hatte am Abend als Ehrengast an der Vereidigungszeremonie von Irans neuem Präsidenten Masoud Pezeshkian teilgenommen. Der oberste Führer des Irans, Ajatollah Ali Chamenei, machte umgehend Israel verantwortlich und kündigte Vergeltung an. Es werde „eine harte Bestrafung geben“. Kommt es jetzt zum offenen Krieg zwischen Iran und Israel?

Die israelische Armee wollte die Berichte über Hanijas Tod zunächst nicht kommentieren. Klar ist aber: Der Tod ihres Anführers ist nicht nur für die Hamas ein herber Rückschlag, er ist auch eine maximale Provokation für die iranischen Gastgeber und langjährigen Unterstützer der Hamas. Der Anschlag in Teheran folgte zudem nur wenige Stunden nach dem Einschlag einer Rakete in ein Wohnhaus im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut. Er richtete sich gegen die Hisbollah – auch sie wird vom Teheraner Regime unterstützt.

Hamas-Chef Hanija bei Angriff im Iran getötet

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    Unter den von Trümmern begrabenen Toten soll nach Angaben des israelischen Verteidigungsministers Joav Galant auch Fuad Schukr sein. Die Nummer Zwei der straff organisierten, 20.000 Kämpfer starken Hisbollah-Miliz sei für den Beschuss der Kleinstadt Madschdal Schams auf den Golan-Höhen verantwortlich, so Galant. Am Samstag hatte hier ein Geschoss zwölf Jugendliche auf einem Fußballplatz getötet. Die Regierung in Jerusalem kündigte unmittelbar nach dem Anschlag an, die Hisbollah zu bestrafen. Ist die Gewaltspirale noch zu stoppen?

    Krieg in Gaza: Auch Freilassung der Geiseln nun in weiter Ferne

    Mit dem Attentat von Teheran scheint ein Ende des Krieges in Gaza und in dem Grenzgebiet zwischen Israel und dem Libanon in weite Ferne gerückt zu sein. Mit Hanijas Tod hat Israel nicht nur den Chef der Hamas getötet. Nun fehlt auch ein Partner für die seit Monaten laufenden Geheimgespräche über einen Waffenstillstand und die Freilassung der 115 noch in Gaza festgehaltenen israelischen Geiseln. „Wer von der Hamas soll denn zukünftig das Risiko eingehen, sich öffentlich zu exponieren und sich damit zum Ziel des nächsten israelischen Angriffs zu machen?“, fragt ein palästinensischer Politiker aus Ramallah in der Westbank. Er möchte wie viele in Ramallah lieber anonym bleiben, aus Angst vor der israelischen Armee und der Hamas.

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    Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in Ramallah ist zwar seit Jahren mit der Hamas verfeindet. Vielen Bewohnern des Westjordanlandes erscheint der bewaffnete Widerstand der Hamas aber erfolgversprechender als die Kooperation mit Israel, auf die Mahmoud Abbas, der Chef der PA setzt. Der verurteilte am Mittwoch den Anschlag auf seinen Kontrahenten, im Westjordanland begann aus Protest ein Generalstreik.

    In der Region warten nun viele besorgt auf eine mögliche iranische Reaktion – ein iranischer Gegenschlag würde jedoch nur wenig Kritik auslösen. Im Gegenteil: Der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan bezeichnete Hanijas Tod am Mittwoch als „zionistisches Barbarentum“. Auch Erdogan hatte immer wieder Hamas-Anführer empfangen und vor wenigen Tagen viel Beifall für seine Drohung erhalten, militärisch gegen Israel aktiv zu werden, sollte die Regierung von Benjamin Netanjahu nicht die Angriffe gegen Zivilisten in Gaza einstellen.

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    An diesem Freitag soll Hanija in Doha beigesetzt werden. Die Beerdigung dürfte eine Machtdemonstration der Anti-Israel-Allianz werden. Und danach? In Israel, dem Libanon, Gaza und dem Westjordanland bereiten sich die Menschen nun auf eine ungewisse Lage vor. Drei Szenarien – und wie wahrscheinlich sie sind:

    Szenario Nummer 1: Ein koordinierter Angriff auf Israel

    Sollten die Huthis aus dem Jemen, die Hisbollah aus dem Libanon und die verbliebenen Hamas-Einheiten in Gaza Israel zeitlich abgestimmt angreifen, würde das Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ wohl überlastet sein. Im Norden Israels hat man sich in den letzten Wochen bereits auf den Einschlag hunderter Geschosse in wenigen Stunden vorbereitet. Mit großen Beton-Elementen wurden Krankenhäuser geschützt, in den letzten Tagen wurden weitere Armeeeinheiten an die Grenze verlegt. Bei einem Großangriff auf Israel rechnen Experten mit vielen Hundert Toten. Doch Armeechef Galant hat für diesen Fall bereits eine massive Antwort der israelischen Luftwaffe angekündigt: „Wir können den Libanon in die Steinzeit zurückbomben“, so Galant martialisch. Bei ihrem Treffen in Doha werden wohl viele Vertreter der sogenannten „Achse des Widerstands“ gegen Israel anwesend sein und über eine gemeinsame Strategie entscheiden.

    Szenario Nummer 2: Der Beginn einer Terrorwelle

    Wahrscheinlicher erscheint der Versuch des Irans und seiner Verbündeten, Israel mit einer Terrorwelle zu überziehen. Mit der Hisbollah und Teheran verbündete Gruppen in Syrien und dem Irak diskutieren bereits ganz offen, auch Israelis und dessen westliche Verbündete in der ganzen Region anzugreifen. Im September 2015 hatte schon einmal eine Welle von Bombenexplosionen nicht viele Menschen getötet, sondern auch zu einer ernsthaften Wirtschaftskrise in Israel geführt.

    Szenario Nummer 3: Die Schaffung einer neuen palästinensischen Einheit

    Ende Juli einigten sich Repräsentanten von einem Dutzend palästinensischer Organisationen auf eine enge Kooperation. Chinesischen Diplomaten war mit dem Treffen ein echter Coup gelungen. Die seit Jahren zerstrittenen Hamas-Funktionäre und Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde, meist Anhänger der gemäßigten Fatah-Bewegung, arbeiten seitdem an einem Plan, den Gaza-Streifen gemeinsam zu verwalten. Internationale Vermittler aus den Ägypten, den USA und Katar berichten, dass die Details eines Abkommens bereits unterschriftsreif seien. Doch Hauptgegner eines Kompromisses waren zuletzt die radikalen Koalitionspartner von Israels Premier Benjamin Netanjahu.

    Sicherheitsminister Ben Gvir und andere Hardliner wollen um jeden Preis eine palästinensische Einheit und eine Zweistaatenlösung verhindern. Sie geben sich ebenso kompromisslos wie ihre Gegner in Teheran. Das Westjordanland und Gaza will Ben Gvir durch den Bau neuer jüdischer Siedlungen schrittweise unter vollständige israelische Autorität stelle. Mit dem Tod von Ismail Hanija und der erwartbaren Eskalation ist Gvir seinem Ziel ein Stück nähergekommen.