Herzebrock-Clarholz. Josephine ist Anfang 20, als ihr Vater einen Schlaganfall erleidet. Sie studiert und kümmert sich um ihn. Was das für ihr Leben bedeutet.
„Wirklich mitten im Nirgendwo“, sagt Josephine Conrad, wenn sie ihren Wohnort beschreibt. Auf dem Weg zu ihr versteht man, was sie meint. Das Backsteinhaus taucht genau dann am Ende der schmalen Straße auf, wenn man eigentlich schon denkt, man habe sich verfahren. Drumherum ist alles grün: ein wilder Garten, ein paar Bäume und ein Maisfeld, das direkt hinter dem Haus beginnt.
Eine Treppe aus Metall führt in die Wohnung im ersten Stock, in der Josephine und ihr Vater leben. Zeitweise wohnt auch einer ihrer zwei Brüder dort, außerdem ein Spitz und fünf Katzen. Eigentlich hätten sie Glück gehabt, dass mit dem Rollstuhl in der Wohnung alles so gut klappe, sagt sie. Nur die Treppe sei ein Problem, die komme ihr Vater nicht ohne Hilfe hinunter. 15.000 Euro würde ein Treppenlift kosten, die Krankenkasse hätte nur ein Drittel gezahlt. „Wir haben uns dann erstmal dagegen entschieden“, sagt Josephine. Die 22-Jährige trägt ein helles Kleid, darüber eine braune Jacke. Ihre Haare sind offen.
Nach einem Schlaganfall vor anderthalb Jahren war alles anders
Während andere in ihrem Alter in WGs ziehen, Partys feiern und ihr Studierenden-Leben genießen, ist Josephine meistens zu Hause. Seit anderthalb Jahren pflegt die 22-Jährige gemeinsam mit ihren Brüdern ihren Vater Frank Conrad, der mit 58 Jahren einen schweren Schlaganfall hatte. Josephine erinnert sich heute noch genau an den Tag im Januar 2023. Sie war die Erste, der damals die Veränderungen bei ihrem Vater auffielen – erst die Kaffeetasse, die ihm aus der Hand fiel, dann die Probleme beim Sprechen. Einen Monat verbrachte er nach dem Schlaganfall im Krankenhaus, weitere anderthalb in der Reha. Als er wieder nach Hause kam, war alles anders als zuvor.
„Wir können erstmal zu meinem Vater gehen“, sagt Josephine und geht voraus ins Wohnzimmer. Frank Conrad sitzt in seinem Rollstuhl vor dem Fernseher. Er schaut Nachrichten, das macht er gerne. Gerade ist Christian Lindner im Bild zu sehen. Bis kurz vor seinem Schlaganfall hat Frank Conrad als Logistik-Manager gearbeitet und gut verdient. Eigentlich ist er aber Diplom-Chemiker.
Vieles im Raum zeugt noch von seinem Berufsleben. Etwa die wissenschaftliche Arbeit, die in dem großen Bücherregal liegt. Er hat sie einst selbst geschrieben. Heute kann er sie kaum noch lesen. Der Schlaganfall hat vor allem sein Sprachzentrum getroffen. Er hat eine Aphasie, das heißt, er hat Probleme, Worte zu verstehen und sich auszudrücken. Dazu kommt eine halbseitige Lähmung. Aufgrund der Schwere seines Schlaganfalls hat er heute den zweithöchsten Pflegegrad.
„Niemand bringt einem bei, was Pflege im Alltag bedeutet“
Dabei hat Frank Conrad mittlerweile schon deutliche Fortschritte gemacht. Mithilfe eines Gehstocks kann er wieder einige Schritte laufen, erst vor Kurzem hat er es mit Unterstützung zum ersten Mal wieder über die Treppe nach unten in den Garten geschafft. Auch das Sprechen funktioniert inzwischen wieder deutlich besser, er kann wieder einzelne Worte und Zahlen erkennen.
Doch sich in der neuen Situation zurechtzufinden, war für beide nicht leicht. „Die Zeit nach dem Schlaganfall war eine der härtesten in meinem Leben“, erzählt Josephine kurze Zeit später. Sie sitzt am Küchentisch, an der Wand hinter ihr hängen Kalender und Notizen – eine ganz normale Familienküche. „Niemand bringt einem bei, was Pflege im Alltag bedeutet“, sagt die 22-Jährige. „Mein Vater kam dann aus der Reha und ich hatte erstmal keine Ahnung, wie alles funktioniert.“
Gemeinsam mit ihren Brüdern habe sie damals von jetzt auf gleich alles organisieren müssen – vom Rollstuhl über einen Badewannenlift bis zu diversen Therapien. Seit ihre Mutter vor zehn Jahren an Krebs starb, waren die Geschwister alleine mit ihrem Vater. Josephines ältester Bruder ist berufstätig und lebt in Düsseldorf. Er übernimmt vor allem die Verwaltungsaufgaben. Ihr mittlerer Bruder hilft bei der Pflege zu Hause. Als Josephine vergangenes Jahr für ein paar Monate wegen ihres Studiums in den Niederlanden war, übernahm er die Pflege ganz. Doch ab Oktober muss er für sein Studium wegziehen. Dann ist Josephine mit ihrem Vater alleine.
Wenn man mit Josephine spricht, vergisst man schnell, dass sie erst 22 Jahre alt ist. Und sie sagt auch selbst: „So eine Pflegesituation ist wie ein Crashkurs im Erwachsenwerden.“ Plötzlich müsse man sich mit Themen beschäftigen, mit denen die meisten erst viel später im Leben konfrontiert werden würden. Und das betreffe nicht nur die Pflege an sich, sondern auch die ganze Organisation drumherum, sagt sie: „Ich bekomme schon immer Angst, wenn ein neuer Brief von der Rentenkasse kommt, weil das eigentlich nie was Gutes heißt.“
Junge Pflegende: Viel Zeit fürs Studium bleibt nicht
Es ist Mittwochnachmittag, am Vormittag waren schon der Pflegedienst und die Logopädie da. „Unter der Woche kommt eigentlich jeden Tag irgendjemand“, sagt Josephine. Auf einem karierten Notizblock macht sie ihrem Vater deswegen am Anfang der Woche immer einen Plan, in den sie einträgt, wann wer kommt. Die Therapiestunden sind meistens vormittags. Danach kocht Josephine für sich und ihren Vater und kümmert sich um den Haushalt.
„Nachmittags machen wir dann häufig Übungen, die wir zum Beispiel von der Physiotherapie oder der Logopädie bekommen“, berichtet sie. Dafür haben sie etwa laminierte Karten mit den Zahlen von eins bis zehn oder den Wochentagen, die in der richtigen Reihenfolge angeordnet werden müssen. Anschließend muss sie noch Abendessen machen, den Hund versorgen und ihrem Vater mit den Stützstrümpfen helfen.
Viel Zeit für die Uni bleibt deswegen nicht mehr. Denn eigentlich studiert Josephine Europäische Studien in Osnabrück. Doch wegen der Pflege mussten Vorlesungen und Hausarbeiten in letzter Zeit oft hintenanstehen. Am Anfang habe sie noch öfter versucht, sich abends hinzusetzen und zu lernen, wenn ihr Vater schlief, erzählt sie. „Aber das war einfach körperlich unfassbar anstrengend.“ Deswegen falle es ihr schwer, Abgabefristen einzuhalten. Wenn sie in Vorlesungen gehe, müsse sie immer gucken, dass sie rechtzeitig wieder zu Hause sei. Rund anderthalb Stunden braucht sie mit Auto und Bahn bis nach Osnabrück – in eine Richtung.
Ein Großteil der Pflegebedürftigen in Deutschland wird zu Hause gepflegt
Das größte Problem sei, dass es an ihrer Uni kein Angebot für Studierende mit Pflegeverantwortung gebe. „Für Studierende mit Behinderung oder Studierende mit Kind gibt es klare Regelungen und Nachteilsausgleiche“, sagt sie. Bei ihr sei das anders, sie sei immer von der Gunst der Dozentinnen und Dozenten abhängig – etwa, wenn es um Verlängerungen von Abgabefristen gehe.
Und auch sonst, sagt Josephine, fühle sie sich als junge Pflegende in der Gesellschaft oft unsichtbar. Dabei ist sie nicht allein: Eine Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums kam 2017 zu dem Ergebnis, dass in Deutschland schätzungsweise 480.000 Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 19 Jahre ihre Angehörigen pflegen. Nimmt man junge Erwachsene dazu, steigt die Zahl noch einmal. Die Befragung „Studierende in Deutschland“ ergab zudem, dass 2021 fast 12 Prozent aller Studierenden Pflegeaufgaben übernahmen. Die meisten von ihnen innerhalb der Familie.
Das deutsche Pflegesystem ist auf pflegende Angehörige wie Josephine angewiesen. Ende 2021 waren in Deutschland laut Statistischem Bundesamt rund fünf Millionen Menschen pflegebedürftig. Vier von fünf Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Angehörige bekommen dafür in der Regel ein Pflegegeld, das sich nach dem Pflegegrad berechnet. So ist es auch bei Josephine und ihren Brüdern.
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„Wenn ich es nicht mache, dann macht es keiner.“
Josephine, ihr Vater und ihre Brüder sind mittlerweile ein eingespieltes Team. Leicht ist es dennoch nicht immer. „Es gibt Tage und Wochen, da ist man in seinen Routinen drin und hat das Gefühl, gerade alles hinzubekommen, und dann gibt es so Momente, in denen die persönliche Uhr einfach auf fünf vor Nervenzusammenbruch steht“, sagt Josephine. „Pflege bedeutet eben auch, 24/7 verfügbar zu sein. Wenn ich einen schlechten Tag habe, schlecht geschlafen oder keine Energie habe, dann muss ich die Dinge trotzdem machen. Wenn ich es nicht mache, dann macht es keiner.“
Rückhalt findet Josephine bei ihrer besten Freundin und ihrem Freund. Auch ihr restlicher Freundeskreis habe zum Glück viel Verständnis für ihre Situation, erzählt sie. Gedanken macht sie sich vor allem über Frage, wie lange sie ihren Vater noch zu Hause betreuen kann. „Was machen wir, wenn wir irgendwann alle berufstätig sind oder keiner mehr hier vor Ort sein kann?“, fragt sie. Aktuell falle ihr die Vorstellung schwer, die Verantwortung für die Pflege irgendwann abzugeben. Auch wenn ihr Vater wahrscheinlich damit einverstanden wäre. „Ich weiß, dass es sein größter Wunsch ist, dass wir Kinder alle glücklich sind im Leben und das machen können, was wir wollen“, sagt sie.
Aber sie sagt auch: Die Pflege sei nicht immer nur anstrengend. Immer wieder gäbe es schöne Momente. Zum Beispiel neulich, als sie den zweiten Teil des Films „Dune“ auf Blu-ray bestellt habe, um ihn gemeinsam mit ihrem Vater zu gucken. Sie habe gewusst, dass er ihn gerne sehen wollte, aber ins Kino zu gehen, sei schwierig. „Das sind dann so kleine Dinge, die alles ein bisschen schöner machen“, sagt sie. Und manchmal fühle sich dann alles wieder so an wie früher. „Wenn der Hund zum Beispiel etwas Komisches macht und wir dann alle darüber lachen. Dann denkt man: Okay, es hat sich nichts geändert“, sagt Josephine.