Berlin. Das Lager, in dem auch Frauen und Kinder von IS-Kämpfern seit Jahren eingesperrt sind, entwickelt sich zur Gefahr – auch für Europa.

Mitte November 2022 zeigt al-Hol wieder seine grauenhafte Seite. In einem Abwasserkanal entdecken Sicherheitskräfte die Leichen von zwei ägyptischen Mädchen. Eines hat zwölf Jahre gelebt, das andere 15. Beide Kinder sind enthauptet worden. Die Zeltstadt im Nordosten Syriens ist ein von der Welt vergessener Ort, in dem die menschenverachtende Ideologie des Islamischen Staates (IS) noch immer lebt und gedeiht. Es ist die Brutstätte für den Terror einer neuen Generation.

Syrische und irakische Kurdenpolitiker warnen vor einer Zeitbombe, die auch zur Gefahr für Europa werden kann. Anfang der 1990er-Jahre wurde al-Hol für irakische Flüchtlinge eingerichtet, die wegen des Golfkriegs ihre Heimat verlassen mussten. Als im März 2019 das Terrorkalifat des IS in der Schlacht von Baghuz untergeht, retten sich viele Angehörige der Kämpfer in das Camp. Heute leben in al-Hol etwa 50.000 Menschen. Die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder aus über 50 Nationen – unter ihnen sind auch Deutsche.

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Das Camp ist mittlerweile mit Stacheldrahtzäunen und Gräben umgeben und wird von den Demokratischen Streitkräften Syriens (SDF) bewacht. Das hat Gründe. Viele der Bewohner gelten als maximal radikalisiert. Die beiden Mädchen, die im November 2022 tot aufgefunden wurden, sollen nach UN-Angaben zuvor vergewaltigt und danach von extremistischen Bewohnerinnen des Camps wegen außerehelicher Sexualkontakte schikaniert worden sein.

Die Kinder von al-Hol sollen „irgendwann Menschen köpfen“

Immer wieder kommt es zu brutaler Gewalt gegen Campbewohner, die nicht der IS-Ideologie folgen, heißt es aus den Kreisen derjenigen, die al-Hol bewachen. Auf Videos aus dem Camp sind tief verschleierte Frauen in schwarzen Gewändern zu sehen, die wie Schatten zwischen den staubbedeckten weißen Zelten wirken. Kinder attackieren die Filmenden mit Steinen. „Die Mütter selbst ziehen ihre Kinder groß, damit sie irgendwann Menschen köpfen“, sagt Ilham Ahmed.

Ahmed ist Außenbeauftragte der Selbstverwaltung in Nordostsyrien. In der quasi autonomen Region haben sich vor allem die Kurden von der Herrschaft des Assad-Regimes emanzipiert und eigene staatliche Strukturen aufgebaut. Die Menschen hier haben die Hauptlast des Kampfes gegen den IS in Syrien getragen und leiden noch heute unter dem Terror. Bis zu 10.000 IS-Kämpfer sollen in Nordostsyrien und im benachbarten Nordirak nach wie vor aktiv sein. Allein in diesem Jahr sind in Syrien fast 400 Menschen bei Angriffen der Fanatiker gestorben.

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Ein Bild aus dem August 2022 zeigt das Camp al-Hol und eine bewaffnete Sicherheitskraft, die die Insassen bewacht. © AFP/Getty Images | Getty Images

Mit al-Hol befindet sich eine Schule des Terrors im Kontrollgebiet der Selbstverwaltung. „Immer wieder müssen unsere Sicherheitskräfte innerhalb des Camps Operationen durchführen, weil es von außen Versuche gibt, Einfluss auf die Camp-Insassen zu nehmen – also Waffen zu schicken, sie von außen zu steuern und zu organisieren“, berichtet Ahmed. Bei einigen der Operationen hätten die Sicherheitskräfte unter den Zelten und Unterkünften versteckte Räume entdeckt, in denen Kinder ausgebildet und indoktriniert würden.

Kurden sind enttäuscht über mangelnde Hilfe aus dem Ausland

Die Lebensumstände im Camp gelten als katastrophal. Al-Hol habe sich zu einer Art „Freiluftgefängnis“ entwickelt, berichtet die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ nach einem Besuch Ende 2022. Menschen würden in dem Camp systematisch ihrer Rechte beraubt und seien dauerhaft Gewalt und Unsicherheit ausgesetzt. Insbesondere für Kinder seien die Bedingungen untragbar. Die Selbstverwaltung warnt seit Jahren, dass sie durch die schiere Menge der Campbewohner überfordert ist – zumal in ihren Gefängnissen in Nordostsyrien etwa 12.500 IS-Kämpfer inhaftiert sind, die ebenfalls bewacht werden müssen.

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Bitten um Entlastung und Unterstützung ans Ausland laufen bislang ins Leere. Ilham Ahmed ist enttäuscht von Bündnispartnern wie den USA, Deutschland, Frankreich oder Großbritannien: „Wir haben Seite an Seite mit diesen Ländern gegen den IS gekämpft und sie haben sich einfach herausgezogen, ohne eine daraus resultierende Verantwortung zu übernehmen“, sagt sie. „Ich möchte ausdrücklich sagen: Das ist gefährlich.“

Aus dem Auswärtigen Amt heißt es dazu auf Anfrage unserer Redaktion, man verfolge die Lage in Nordostsyrien sehr genau, wisse um die schwierige humanitäre und Sicherheitslage in den Camps und Haftanstalten. Maßnahmen zur Verbesserung der Situation würden unterstützt. „Wir wollen nicht zulassen, dass die Terrororganisation IS die schlechte Versorgungslage in den Lagern für ihre Zwecke instrumentalisiert“, so ein Sprecher. Das Ministerium kennt also die Gefahr, die al-Hol darstellt. Geschehen ist nach Angaben der kurdischen Selbstverwaltung aber so gut wie nichts.

Deutschland nahm bisher 107 Frauen und Kinder aus Camps zurück

Wiederholt haben die Kurden darum gebeten, dass die Herkunftsländer inhaftierter IS-Kämpfer und IS-Angehöriger ihre Staatsbürger zurücknehmen, um die Situation zu entschärfen. Die Bundesregierung hat aber bislang nicht einen einzigen der 30 inhaftierten deutschen Kämpfer repatriiert. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes wurden bislang lediglich 80 Kinder und Heranwachsende und 27 Frauen zurückgeholt. Eine „niedrige zweistellige Zahl“ halte sich noch in den Camps – neben al-Hol auch al-Roj – auf. Eine Rückholung von Frauen und Kindern sei nur möglich, wenn die Betroffenen dies auch wollten.

Auch auf die Forderungen nach dem Bau sicherer Haftanstalten und der Installation eines Internationalen Tribunals zur Verurteilung der IS-Kämpfer und ihrer Angehörigen geht die internationale Gemeinschaft nicht ein. „Bis jetzt haben wir keine nennenswerte Unterstützung bekommen, in letzter Zeit ist sogar eine gewisse Abneigung zu spüren“, klagt Ilham Ahmed. Seitens der Bundesregierung wird das hinter vorgehaltener Hand damit begründet, dass man keine offiziellen Beziehungen zu der Selbstverwaltung in Nordostsyrien habe.

„Bis jetzt haben wir keine nennenswerte Unterstützung bekommen, in letzter Zeit ist sogar eine gewisse Abneigung zu spüren.“

Ilham Ahmed
Außenbeauftragte der Selbstverwaltung in Nordostsyrien

Wie brisant die Situation ist, zeigte sich im Januar 2022, als IS-Kämpfer die überfüllte Haftanstalt Ghwayran attackierten, um Gesinnungsgenossen zu befreien. Bei den tagelangen Gefechten kamen fast 400 Menschen ums Leben, mehrere Hundert Gefangene konnten entkommen. Zudem wird die Situation für die Selbstverwaltung erschwert, weil die Türkei und ihre islamistischen Verbündeten den Aufbau einer kurdisch dominierten Autonomieregion mit Bombardements unterbinden wollen.

Lediglich der Irak übernimmt regelmäßig inhaftierte IS-Kämpfer und ihre Angehörigen. Die Kämpfer werden vor Gericht gestellt, die meisten von ihnen werden hingerichtet. Auch jenseits der Grenze sieht man die Situation kritisch: Die Camps und Gefängnisse in Nordostsyrien seien „tickende Zeitbomben“, warnt der irakisch-kurdische Innenminister Rebar Ahmed Khalid. Er wirbt für eine internationale Konferenz, auf der über die Zukunft der Einrichtungen beraten wird. „Es geht um die Sicherheit der Weltgemeinschaft.“

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