Berlin. Die USA und Deutschland nehmen die Bedrohung durch Russland sehr ernst. Militärexperte Masala sagt: Jetzt wird eine Lücke geschlossen.

Im Winter und Frühjahr hat die Ukraine viel Zeit verloren, als sie auf neue Waffen und Munition gewartet hat. Inzwischen stehen die ukrainischen Streitkräfte wieder besser da. Demnächst sollen F-16-Kampfjets im Land eintreffen. In Deutschland sollen bald wieder amerikanische Langstreckenwaffen stationiert werden. Militärexperte Carlo Masala sagt: Das ist ein klares Signal.

Herr Masala, wie ist die aktuelle Lage in der Ukraine und an der Front?

Carlo Masala: Die russische Gegenoffensive gegen Charkiw ist nicht erfolgreich gewesen, aber: Sie ist auch nicht zum Erliegen gekommen. Wir sehen im Donbass, dass Russland beständig weiterkommt. Täglich machen sie 500 bis 1000 Meter Boden gut. An einigen Stellen der Front konnte die Ukraine dank des Munitionsnachschubes bei der Artillerie Gleichstand herstellen, an anderen konnte sie die Überlegenheit der Russen auf ungefähr 4:1 vermindern. Die Ukrainer versuchen weiterhin, russische Infrastruktur im Hinterland zu zerstören, vor allem mit den Drohnen, und den Druck auf die Krim zu erhöhen

Carlo Masala

Er ist einer der bekanntesten Militärexperten in Deutschland. Masala (Jahrgang 1968) lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Konflikt in der Ukraine.

War die Entscheidung, der Ukraine den Beschuss russischer Ziele zu erteilen, um Charkiw zu schützen, zielführend?

Das war erfolgreich. Es kommt derzeit relativ wenig Beschuss aus dem russischen Gebiet heraus, also aus der Gegend um Belgorod. Die ukrainische Gegenwehr hat dazu geführt, dass die Massivität der Angriffe auf Charkiw abgenommen hat.

Haben die Russen Charkiw als strategisches Ziel fürs Erste aufgegeben? 

Nein, das ist ein wichtiger Punkt: Die russische Gegenoffensive ist zum Erliegen gekommen. Das heißt aber nicht, dass sie gescheitert ist. Jetzt gehen sie mit dem Material und den Streitkräften, die sie in der Ukraine haben, vor. Das ist wesentlich schwieriger. Dennoch kommen sie damit weiter. Es gibt auch die Annahme, dass Charkiw nur ein Ablenkungsmanöver war, um ukrainische Kräfte von Tschassiw Jar abzuziehen, und dass die eigentliche Hauptstoßrichtung diese Stadt gewesen ist.

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Was haben Sie gedacht, als Sie vom Bombardement auf das Kinderkrankenhaus gehört haben?

Es mag zynisch klingen. Aber das ist nichts Ungewöhnliches, wenn man sieht, wie Russen in der Vergangenheit Krieg geführt haben. Schauen Sie sich Tschetschenien und Syrien an. Die Bombardierung ziviler Infrastruktur, also auch von Krankenhäusern, gehört zum russischen Repertoire bei Militäroperationen. Ich war nicht sonderlich überrascht. Zumal es nicht das erste Mal war – in Mariupol war zu Beginn des Krieges ebenfalls eine Geburtsklinik bombardiert worden. Es geht parallel immer um die Terrorisierung der Zivilbevölkerung. Diese Angriffe auf Infrastruktur dienen auch dazu, Fluchtbewegungen zu erzeugen. Ob das erfolgreich ist, werden wir im nächsten Winter sehen.

Es sollen nun die ersten F-16 in die Ukraine kommen. Werden die Ukrainer sie dann auch schnell sachgerecht einsetzen können?

Da gibt es einige Fragen, die wir als Beobachter nicht beantworten können. Mit welcher Bewaffnung kommen die Jets? Werden sie in der Lage sein, aus dem ukrainischen Luftraum mit Luft-Luft-Raketen russische Kampfbomber, die im russischen Luftraum sind und von dort aus Raketen abschießen oder Gleitbomben abwerfen, zu bekämpfen? Das hängt von der Bewaffnung der F-16 ab. Die zweite Frage ist: Wo werden sie eingesetzt? Werden sie gegen die Krim eingesetzt? Oder werden sie im Nordosten eingesetzt, also im Donbass? Die russische Luftwaffe ist eigentlich sehr zurückhaltend, in den ukrainischen Luftraum einzudringen. Sollten die F-16 aber im Nordosten eingesetzt werden, ist es nicht auszuschließen, dass wir ein stärkeres Engagement der russischen Luftwaffe sehen und dann eben auch Luft-Luft-Kämpfe. Da besteht das Risiko, dass die F-16 dabei abgeschossen wird. Der dritte Punkt ist: Wo ist die ganze Logistik für die Kampfjets? Es gab die Idee, die Logistik in Nato-Ländern zu stationieren. Kommt es dazu oder werden Wartung und Flugplätze vor Ort in der Ukraine sein? Wie wird sie geschützt sein? Nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass die F-16 kommen.

Was genau werden sie bewirken?

Sie sind keine game changer, ganz klar. Aber sie werden der Ukraine helfen, ihren Luftraum besser zu kontrollieren. 

Es dauert normalerweise relativ lange, bis ein Pilot so einen Kampfjet richtig gut fliegen kann.

Das ist der entscheidende Punkt. Von der Grundausrichtung her ist die russische Luftwaffe darauf eingestellt, Luft-Luft-Kämpfe zu machen. In der Ukraine wurde sie für Luft-Boden-Kämpfe eingesetzt. Da ist sie schlecht, weil das nicht ihr Schwerpunkt ist. Da stellt sich die Frage: Sind die ukrainischen Piloten ausreichend dafür ausgebildet, um das bestehen zu können? Oder werden sie zu früh eingesetzt? Das können wir erst beurteilen, wenn wir die F-16 in Aktion sehen.

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Kann man das als klares Zeichen werten, wie ernst die USA und Deutschland die Bedrohung durch Russland nehmen?

Ja, die abschreckende Wirkung wird erhöht. Man muss noch abwarten, wie viele es sein werden. Bisher hatten wir immer ein Problem bei der Luftverteidigung bei einem möglichen russischen Angriff in Europa. Außerdem fehlten die Fähigkeiten, angemessen zu reagieren und tief in Russland gelegene Ziele zu beschießen. Diese Lücke wird jetzt geschlossen.

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Im Krisenmodus

Experten halten mindestens zehn Milliarden Euro nächstes Jahr im Verteidigungsetat für nötig, veranschlagt ist viel weniger. Wie schätzen Sie das ein?

2028 wird das Sondervermögen der Bundeswehr aufgebraucht sein. Wir haben aber erklärt, dass wir das Zwei-Prozent-Ziel erfüllen. Das sind 80 Milliarden Euro. Die Wahrscheinlichkeit, dass die dann regierende Koalition 2028 30 Milliarden Euro in die Verteidigung wird pumpen können, halte ich für sehr gering. Das ist aus meiner Sicht gesellschaftlich hoch problematisch. Erforderlich ist deshalb ein beständiger Zuwachs des Verteidigungshaushaltes, etwa um zehn Milliarden im Jahr. Dann hätte man 2028 diese 80 Milliarden Euro und könnte sie weiterführen. Die Lücke, die jetzt entsteht, halte ich für schwierig. Das Verschieben dieser Entscheidung auf zukünftige Regierungen ist ebenfalls ein Problem.

Die Ukraine plant eine Rekrutierung der im Ausland lebenden wehrfähigen Männer. Wird man die ukrainischen Männer jetzt einfangen?

Das ist von Land zu Land verschieden und hängt von den nationalen gesetzlichen Rahmenbedingungen ab. In Deutschland liefern wir keine Männer im wehrfähigen Alter an Staaten aus, die Angriffskriege durchführen. In der Ukraine handelt es sich nicht um einen Angriffskrieg, sondern um einen Verteidigungskrieg. Aber unsere Rechtsprechung war in der Vergangenheit so, dass wir Wehrpflichtige nicht ausgeliefert haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass deutsche Gerichte das nun entsprechend bei den Ukrainern entscheiden, ist relativ hoch.