Washington/Brüssel. Der Gipfel verspricht der Ukraine unumkehrbar den Nato-Beitritt und weitere Hilfen. Doch Nato-Militärs warnen vor schweren Monaten.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg redete den versammelten Spitzen der 32 Nato-Mitgliedsländer eindringlich ins Gewissen. Der Westen dürfte im Engagement für die Ukraine nicht nachlassen, mahnte Stoltenberg beim Gipfeltreffen in Washington. „Die größten Kosten und das größte Risiko entstehen, wenn Russland in der Ukraine gewinnt.“ Das würde nicht nur Wladimir Putin ermutigen, sondern auch „autoritäre Anführer im Iran, Nordkorea oder China“. Die Staats- und Regierungschefs kamen Stoltenbergs Aufforderung nach – allerdings in verhaltenem Tempo.
Der Nato-Gipfel schnürte der Ukraine zwar ein Bündel neuer Unterstützungszusagen: Dazu gehören weitere Luftabwehr-Waffen, ein Fünf-Punkte-Plan für die längerfristige Unterstützung und das erneuerte Versprechen, dass die Ukraine Nato-Mitglied werden kann. Doch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigte sich nur bedingt zufrieden. Die Zusagen bleiben hinter den Erwartungen und hinter den militärischen Erfordernissen zurück.
Auch führende Nato-Militärs räumen ein, dass die Lage an der Front für die Ukraine bedrohlich ist: „Der Sommer wird ziemlich schwierig für die Ukraine“, fasst ein ranghoher Nato-Offizieller unter dem Eindruck westlicher Geheimdienst-Informationen zusammen. Der russischen Armee fehle zwar die Kapazität für eine große Offensive, wie sich in Charkiw gezeigt habe – doch habe Russland damit ukrainische Truppen gebunden, was jetzt neue Vorstöße im Donbass erleichtere. Die russische Armee habe noch einige Optionen, um der Ukraine zuzusetzen, sie kämpfe sich in dem Stellungskrieg „Meter um Meter, Kilometer um Kilometer“ vor. Nato-Oberbefehlshaber Christopher Cavoli warnt schon: „Russland stellt seine Streitkraft viel schneller wieder her als wir erwartet haben“. Die Armee sei aktuell um etwa 15 Prozent größer als vor dem Angriff auf die Ukraine, es bestehe die Gefahr einer Eskalation zu einem größeren Krieg.
Nato-Gipfel: Diskussion um Ukraine-Hilfen dominiert
Auch wegen der aktuellen Lage hatten die Ukraine-Hilfen den ersten Tag des Jubiläumsgipfels dominiert. Nach den neuen russischen Raketenangriffen war klar, dass die Nato-Staaten vor allem beim Nachschub für die Luftabwehr schnell nachbessern müssen. Die USA, Deutschland, die Niederlande, Rumänien und Italien sagten deshalb zu, fünf weitere Luftverteidigungssysteme zu liefern und in den nächsten Monaten noch zusätzliche Hilfe für die Luftabwehr zu organisieren. Der Großteil der konkreten Ankündigungen ist allerdings nicht ganz neu, der deutsche Beitrag etwa ist Teil eines bereits vereinbarten Pakets mit drei Patriot-Systemen.
US-Präsident Joe Biden stellte zudem „hunderte“ weiterer Abwehreinrichtungen im nächsten Jahr in Aussicht. Das werde helfen, die Ukraine besser vor russischem Luftterror zu schützen, bedankte sich Selenskyj. Doch klar ist: In der aktuellen Notlage nützt es nichts. Der ukrainische Präsident hatte im Vorfeld gemahnt, sein Land benötige jetzt mindestens sieben weitere Patriot-Feuereinheiten – und das war noch vor den neuen russischen Raketenangriffen, die die Schwachstellen der ukrainischen Abwehr offengelegt hatte. Selbst Nato-Diplomaten äußerten sich deshalb enttäuscht, dass die Hilfsbereitschaft nicht größer ausfällt.
Selenskyj hatte sich zudem auch mit Blick auf den Nato-Beitritt seines Landes mehr gewünscht: Die erhoffte förmliche Einladung zur Bündnis-Mitgliedschaft bleibt erneut aus, das hatte sich allerdings schon vor dem Gipfel abgezeichnet. Die Nato erneuert nun die Zusage, dass die Ukraine Mitglied werden soll, wenn alle Aufnahmebedingungen erfüllt sind. Im abgestimmten Entwurf zur Gipfelerklärung wird immerhin zugesichert, der Pfad zur Mitgliedschaft sei „unumkehrbar“ – eine Quasi-Garantie, die die USA und Deutschland eigentlich verhindern wollten.
Nato übernimmt Koordinierung der internationalen Waffenhilfe
Die „Brücke zur Mitgliedschaft“ soll nach Stoltenbergs Worten ein Fünf-Punkte-Paket sein, das er dem Gipfel fertig vorbereitet zur Annahme vorlegte: Kiew werden neue militärische Hilfen im Umfang von 40 Milliarden Euro binnen eines Jahres in Aussicht gestellt, daran sollen sich die Nato-Mitgliedstaaten nach ihrer Wirtschaftskraft beteiligen. Die 40 Milliarden entsprechen dem Niveau der bisherigen Hilfen, die Festschreibung soll den Druck auf bisher zögerliche Mitglieder erhöhen, Lasten zu übernehmen - Frankreich, Spanien und Italien gehören zu den Bummlern. „Wir werden das Ausmaß der Unterstützung bei unserem Gipfeltreffen im Jahr 2025 überprüfen“, drohte Stoltenberg.
Die Nato übernimmt zudem von der US-Armee die Koordinierung der internationalen Waffenhilfe: Mit einem Kommando unter der Leitung eines Drei-Sterne-Generals und etwa 700 Mitarbeitern, die in einem Nato-Hauptquartier in Wiesbaden und an logistischen Knotenpunkten im östlichen Teil des Bündnisses arbeiten werden. Das verstärkte Engagement war lange umstritten, auch die Bundesregierung hatte eine Zeitlang gebremst, denn bisher war die Ukraine-Hilfe Sache der Mitgliedstaaten, während die Nato als Organisation eine auch nur indirekte Einmischung in den Konflikt vermied.
Stoltenberg spielte den Kurswechsel, der einen möglichen Rückzug der USA nach den Präsidentschaftswahlen abpuffern soll, aber herunter: „Dadurch wird die Nato zwar nicht zu einer Konfliktpartei, aber die Selbstverteidigung der Ukraine wird gestärkt“, meint der Bündnis-Chef. Zu dem Fünf-Punkte-Paket gehören schließlich die Bemühung um neue Waffenhilfen für die Ukraine – Artillerie, Munition und die schon angekündigte Luftabwehr - , weitere bilaterale Sicherheitsabkommen und eine zunehmend engere Integration des ukrainischen Militärs in die westlichen Waffen- und Verteidigungssysteme.
Selenskyj fordert 128 Kampfjets vom Typ F-16
Selenskyj nahm die Zusagen freundlich entgegen, demonstrierte aber, dass der tatsächliche Bedarf in anderen Dimensionen liegt: So forderte er in Washington 128 Kampfjets vom Typ F-16. Schließlich könne Russland täglich 300 Bomber zu Angriffen auf die Ukraine einsetzen. Tatsächlich wird der Westen in absehbarer Zeit aber nur ein paar Dutzend moderner Kampfflugzeuge liefern, bislang ist kein einziges eingetroffen. Immerhin fliegen die ersten F-16-Maschinen in Kürze ein, wie die USA, die Niederlande und Dänemark am Rande des Gipfels ankündigten. Selenskyj warnte die Nato-Staaten eindringlich, weitere Unterstützungsbeschlüsse nicht auf die Zeit nach den US-Präsidentschaftswahlen zu verschieben: Es sei an der Zeit, „aus dem Schatten zu treten und mit starken Entscheidungen nicht erst bis November zu warten.“
Dem Präsidenten war nicht entgangen, was sich in den Kulissen des Gipfels tat: Eine Reihe europäischer Delegationen traf sich am Rande mit Vertrauten von Donald Trump, um zu sondieren, wie es nach einem möglichen Wahlsieg des Ex-Präsidenten im Bündnis weitergehen würde. Trump steht im Verdacht, die Hilfe für die Ukraine drastisch kürzen oder ganz einstellen zu wollen. Stoltenberg mahnte die Regierungschefs aber zum Kurshalten: Am besten sei man, wenn man „schwierige Entscheidungen mit politischem Mut und moralischer Klarheit“ treffe.