Berlin.. Die Bundeswehr braucht mehr Personal. Militärexperte Carlo Masala findet klare Worte zu den Vorschlägen des Verteidigungsministers.

Herr Masala, wie ist die Lage an der ukrainischen Front aktuell?

Carlo Masala: Man sieht weiterhin kaum Veränderungen. Die russische Offensive ist nicht zum Erliegen gekommen, sie geht weiter, aber nicht mehr mit derselben Intensität. Die Erlaubnis, russische Positionen auf russischem Territorium anzugreifen, zeigt Wirkung. Der russische Beschuss auf Charkiw hat nachgelassen. Was aber nicht heißt, dass es keinen gibt. Wir sehen weiterhin sehr starke Konzentration der ukrainischen Kräfte auf die Krim. Da ist erneut Flugabwehr zerstört worden. Letzten Endes ist die Krim der Schlüssel, und die Ukrainer betreiben das massiv weiter.

Ein großes Thema ist das neue Wehrpflicht-Modell von Verteidigungsminister Pistorius. Er stellt sich einen Pflichtfragebogen zur Erfassung wehrfähiger Männer vor. Gleichzeitig betont seine Parteikollegin Saskia Esken, es müsse alles freiwillig bleiben … Klingt nach Knatsch. 

Ich glaube nicht, dass man mit Freiwilligkeit weit genug kommt. Dieses Modell haben wir schon seit Jahren, und es hat uns die Probleme eingebracht, die wir jetzt sehen. Das im Verteidigungsministerium diskutierte Modell, das auf Anreize und Freiwilligkeit setzt, ist als die am wenigsten erfolgversprechende Variante bewertet worden. Allerdings muss man sagen: Der Fragebogen, den alle Männer ausfüllen sollen, führt vielleicht bei einigen zu einem Denkprozess. In der Folge entscheiden sich möglicherweise doch mehr junge Männer für eine Zeit in der Bundeswehr. Diese Herangehensweise wird aber letztlich nicht die Personalprobleme der Streitkräfte lösen.

Der Militärexperte Carlo Masala blickt mit Sorgen auf die Bundeswehr, der immer mehr Leute fehlen.
Der Militärexperte Carlo Masala blickt mit Sorgen auf die Bundeswehr, der immer mehr Leute fehlen. © picture alliance / Geisler-Fotopress; AFP (Montage ZRB) | ZRB

Saskia Esken vergleicht den Wehrdienst mit dem Freiwilligendienst – ein passender Vergleich?

Nein, überhaupt nicht. Hinter dem Freiwilligenjahr steht ja kein bestimmter Personalbedarf. In der Bundeswehr haben wir aktuell eine Mannschaftsstärke von unter 180.000. Die Sollstärke liegt aber demnächst bei 230.000 bis 270.000. Das ist eine riesige Lücke, die man füllen muss! Da hilft es wenig, wenn man nur auf Freiwilligkeit setzt. 

Junge Frauen sind von der Erfassung ausgenommen. Im Grundgesetz ist verankert, dass sie keinen Wehrdienst zu leisten haben. Wäre es sinnvoll, das zu ändern?

Auf jeden Fall! Man müsste sogar darüber hinausgehen und die Bundeswehr auch für Nichtdeutsche, die hier geboren wurden und hier leben, öffnen. Aber das sind Modelle, die koalitionsintern nicht zu verkaufen sind. Dabei bedeutet eine moderne Wehrpflicht im 21. Jahrhundert natürlich, dass auch Frauen mitmachen.

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Was wären geeignete Schritte, um die Bundeswehr als Arbeitgeber besonders attraktiv zu machen?

Das sind viele Maßnahmen. Vieles hat mit der Materialausstattung zu tun. Die Bundeswehr muss auch ihre Einstellung in der Personalwerbung ändern und stärker als bislang auf die Leute zugehen. Sie muss schneller reagieren, wenn sich jemand für den Dienst interessiert. Die Leute fragen sich natürlich: Was ist denn mein benefit, wenn ich bei den Streitkräften arbeite? Die Amerikaner verknüpfen das oftmals stark mit Anreizen für die Zeit danach. Auch die Bundeswehr müsste sich überlegen, inwieweit man da nachlegen sollte. Aber: Das kostet alles Geld. Und zum jetzigen Zeitpunkt ist keiner bereit, es auszugeben.

In den kommenden Tagen wird in der Schweiz ein Friedensgipfel für die Ukraine stattfinden. Was erwarten Sie davon?

Nicht viel. Das ist natürlich kein Friedensgipfel, weil eine Konfliktpartei – nämlich Russland – daran nicht teilnimmt. Nichtsdestotrotz sendet die Veranstaltung ein wichtiges Signal: Rund 100 haben ihre Solidarität bekannt mit den Grundzügen der ukrainischen Idee, wie dieser Konflikt beendet werden kann. Das ist das Entscheidende: So viele Länder stellen sich hinter die Ukraine und gegen Russland. Allerdings könnte es dazu kommen, dass im Abschlusskommuniqué nicht die Forderung stehen wird, dass die russischen Truppen sich vollständig aus der Ukraine zurückziehen müssen. Da fängt eine gewisse Veränderung an, die möglicherweise darauf hindeutet, dass man halt nicht zu 100 Prozent hinter dem ukrainischen Friedensplan steht.

Wie haben Sie Putins Auftritt beim Petersburger Wirtschaftsforum wahrgenommen?

Eine Szene war spannend: Putin wurde auf dem Podium von dem Hardliner Sergej Karaganov interviewt. Putin sagte: Die Erlaubnis, russisches Territorium mit westlichen Waffen zu beschießen, stelle aus seiner Sicht noch keine Situation her, in der man über den Einsatz von Nuklearwaffen nachdenken müsse. Zwei, drei Tage zuvor hat er gesagt, Russland könne den Feinden des Westens Waffen liefern.

Was schließen Sie daraus?

Man kann zwar nicht von einer Kehrtwende sprechen, aber er droht hier nicht mehr direkt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen. Stattdessen versucht er, über Umwege abzuschrecken. Nämlich indem er einen Tag vorher sagte: Wir könnten den Feinden des Westens Waffen liefern, sodass die den Westen angreifen. Ob das nun realistisch ist, ist eine andere Frage. Aber es ist doch interessant, dass er auf das verzichtet, was er sonst immer macht. 

Selenskyj hat den Deutschen im Bundestag erneut für ihre Hilfe gedankt. Wie haben Sie seinen Besuch in Deutschland wahrgenommen?

Eigentlich ist es immer eine beschämende Situation für Selenskyj. Er muss den Deutschen danken, denn er kann nicht seinen wichtigsten europäischen Verbündeten verlieren. Man weiß ja, dass die Ukrainer eigentlich gern mehr hätten und es auch brauchen. Aber Selenskyj muss immer darauf hinweisen, wie gut und toll Deutschland ist. In der Tat haben wir noch mal nachgelegt und liefern Munition und für die Luftverteidigung – doch ich betone immer wieder: Mit Luftverteidigung schützt man die Zivilbevölkerung. Doch damit gewinnt man keine Kriege.

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