Düsseldorf/Leipzig. Das NRW-Kabinett trifft sich mit den sächsischen Kollegen in Leipzig - und setzt sich in einer strategischen Frage vom Parteichef Merz ab.

Gemeinsame Kabinettssitzungen zweier Landesregierungen folgen gewöhnlich einer simplen Matrix: Die eine Ministerriege besucht die andere, obwohl es eigentlich nichts zu besprechen, geschweige denn zu entscheiden gibt. Es sind meist Solidaritätstreffen im Umfeld von Landtagswahlen, die den Wahlkämpfern wenig Aufmerksamkeit und staatspolitisches Lametta bescheren sollen.

Als NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) am Dienstagmorgen mit kompletter Regierungsmannschaft in Leipzig bei seinem Amtsbruder und gleichaltrigen Parteifreund Michael Kretschmer eintrifft, ist das also im Prinzip nichts Ungewöhnliches. Sachsen wählt in drei Monaten, und die Kollegen können Zuspruch gut gebrauchen. Die Europawahl am vergangenen Sonntag wurde zum Triumphzug für die AfD, was für die künftige Regierungsbildung im Dresdner Landtag wenig Gutes verheißt.

Und doch wird man den Eindruck nicht los, dass Wüst an diesem Tag nicht nur die Qualitäten des Kollegen Kretschmer ins Licht rücken will, sondern auch die eigenen als Ost-West-Brückenbauer. Schon am Morgen kann man in einem Interview mit der „Sächsischen Zeitung“ lesen, dass Wüst Städtetrips nach Ostdeutschland empfiehlt. Er habe den Eindruck, dass viele Menschen aus Nordrhein-Westfalen noch nie in den – gar nicht mehr so – neuen Ländern gewesen seien. „Mancher kennt sich auf Mallorca besser aus als in Sachsen oder Thüringen. Umso mehr ist es den Versuch wert, die Menschen wieder stärker zusammenzubringen“, fordert der NRW-Regierungschef. Sowas hört man doch gern.

Wüst empfiehlt Reisen nach Ostdeutschland statt Mallorca

Später bei einer Pressekonferenz der beiden Kabinette in der alten Leipziger Baumwollspinnerei zeigt Wüst, dass er durchaus die Ost-Seele zu lesen versteht. Er, der Sohn eines Textilmaschinen-Vertreters aus dem münsterländischen Rhede, berichtet von eigenen Strukturwandel-Erfahrungen in NRW. Wüst zeigt bald 35 Jahre nach dem Mauerfall tiefen Respekt vor den Leipziger Montagsdemonstrationen: „Als politisch interessierter Jugendlicher hat mein politisches Denken und Erstinteresse dadurch Richtung bekommen.“ Die Mutigen auf den Straßen damals seien die Helden seiner Jugend gewesen, sagt Wüst und fügt fast Kennedy-haft hinzu: „Ich kann heute sagen: Ich bin ein 89er.“

Kretschmer, der seit Jahren keinem schwierigen Bürgerdialog aus dem Weg geht und schon 300 Neonazis vor seinem Privathaus stehen hatte, tun die Respektbekundungen aus Düsseldorf sicher gut. Wüst redet allerdings auch einem „Einigungsvertrag 2.0“ das Wort und regt einen neuen „Runden Tisch“ an. Sein Credo: „Viel mehr aufeinander zugehen und miteinander sprechen statt sich aus der Distanz anzubrüllen. Ich glaube, das täte dem Land gut.“

Das wollen die Kollegen dann doch etwas genauer wissen: Will Wüst die Brandmauer zu AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) schleifen und Gespräche über alle Lagergrenzen ermöglichen?

Mögliche Koalitionen mit BSW: Wüst widerspricht Merz

Nein, nein, er wolle bloß „die alte Idee von res publica mit Leben erfüllen auch in einer neuen Zeit“, bleibt er etwas wolkig. Gemünzt auf Wagenknecht sagt Wüst aber auch noch: „Es ist völlig klar, dass wir nicht mit Extremisten gemeinsame Sachen machen. Aber ich würde auch dringend raten, nicht zu sehr mit pauschalen Empfehlungen von oben herab Vorgaben für vor Ort zu machen.“

Das darf als Spitze gegen Parteichef Friedrich Merz gelesen werden. Der hatte schließlich keine 24 Stunden vorher erklärt, eine Zusammenarbeit mit dem BSW komme nicht in Frage. Kretschmer, der sich von Berlin aus strategisch nicht einmauern lassen will, hält es erkennbar mehr mit Wüst: „Ich glaube, dass die Diskussion und dieser hysterische Umgang dafür gesorgt hat, dass Populisten bei dieser Wahl so stark geworden sind.“

Der sächsische Ministerpräsident reklamiert auch Sonderregeln für eine mögliche Zusammenarbeit in Gemeinderäten und Kreistagen. Kommunale Volksvertretungen seien „keine Parlamente, sondern Teil der Verwaltung“ und jeder sei dort zur Mitwirkung verpflichtet. „Ein Bürgermeister, ein Landrat muss mit allen Menschen, die in einem solchen kommunalen Vertretung sind, reden“, findet Kretschmer.

Genau für eine solche Feststellung im ZDF-Sommerinterview 2023 war Merz von der halben NRW-CDU scharf kritisiert worden. Diesmal scheinen die Ausführungen Wüst nicht zu stören. Er sieht ja die Zwänge des Kollegen Kretschmer, der sich zwischen einer AfD auf Volkspartei-Niveau und den Newcomern vom BSW irgendwie behaupten muss. Der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) darf sogar im Beisein der schwarz-grünen NRW-Kollegen sagen, dass man Gefährder „wohin auch immer“ abschieben solle und bei Zurückweisungen an deutschen Grenzen ruhig die Dublin-Rechtsverordnung missachten dürfe.

„Als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident habe ich das große Glück und Privileg, in anderen Rahmenbedingungen arbeiten zu können“, räumt Wüst ein. In NRW zahle der Ampel-Frust bei der CDU ein, im Osten halt bei der AfD.

Als die Kabinettsreise nach Leipzig geplant wurde, war sie vermutlich als weiteres Trainingscamp für einen möglichen Kanzlerkandidaten Wüst gedacht. Gesamtdeutsche Geländegängigkeit hat er in Sachsen auch zweifellos gezeigt. Inzwischen quillt jedoch aus allen Ritzen der Union die Erkenntnis, dass der unangefochtene Parteichef Merz 2025 den Kanzler herausfordern wird. Nur: Zeitpunkt und Nominierungsverfahren wären dann noch mit den Ministerpräsidenten zu besprechen.