Berlin. Die Union fordert vom Kanzler: Mach es wie Macron in Frankreich! Doch Neuwahlen lehnt die Ampel strikt ab. Gibt es dennoch einen Weg?
Kaum waren die Wahllokale geschlossen, ging der erste Unionsmann in die Offensive. Mittlerweile ist es ein ganzer Chor: Bundeskanzler Olaf Scholz soll die Reißleine ziehen, lieber heute als morgen. Vertrauensfrage, Auflösung des Bundestags, Neuwahlen – wie realistisch ist das?
Was will die Union?
Mach’s wie Emmanuel Macron – das ist Markus Söders Botschaft an Scholz. Frankreichs Präsident hatte noch am Sonntagabend angesichts der Wahlschlappe seiner Partei Neuwahlen ausgerufen. Der Kanzler müsse nun ebenfalls den Weg dafür freimachen, „das wäre der letzte große Dienst, den Olaf Scholz den Deutschen erweisen könnte“. Der ehemalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder habe diesen Mut gehabt, Scholz solle das jetzt auch tun, sagte Bayerns Ministerpräsident am Morgen nach der Wahl. „Es braucht jetzt schnellstmöglich Neuwahlen und einen Neustart für unser Land.“
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hatte Kanzler Scholz bereits kurz nach 18 Uhr am Wahlabend aufgefordert, die Vertrauensfrage zu stellen. Entweder die Ampel mache einen Kurswechsel „oder den Weg frei für Neuwahlen“. CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn legte nach: „Wie viele Vollklatschen braucht es noch für Olaf Scholz und die Ampel?“ Nun gehe es um die Frage „Neustart oder Neuwahlen?“ CDU-Chef Friedrich Merz selbst formulierte dieselbe Botschaft – nur höflicher: „Der Kanzler muss jetzt die Konsequenzen ziehen. Welche er zieht, ist seine Sache.“ Aber auch Merz verkniff es sich am Tag nach der Wahl nicht, Scholz an Schröder zu erinnern.
Friedrich Merz: Jetzt ist der Weg frei Richtung Kanzleramt
Der Parteichef betont seit Monaten, dass die Union aus dem Stand heraus bereit wäre für Neuwahlen, Merz gilt für einen solchen Fall als gesetzter Kanzlerkandidat. Das Problem dabei: Merz ist nicht nur weit weniger beliebt als seine internen Allzeitkonkurrenten Markus Söder und Hendrik Wüst – auch im direkten Vergleich zu Scholz schneidet Merz schlecht ab: 23 Prozent halten Olaf Scholz für einen guten Bundeskanzler, bei Merz dagegen sind es nur 20 Prozent. Heißt: Neuwahlen zu fordern ist das eine, Neuwahlen auch zu gewinnen das andere.
Was antwortet die SPD?
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert weist die Forderung der Union zurück, auch die anderen Ampel-Parteien spielen nicht mit dem Gedanken. Die Wahlniederlage sei kein Auftrag zur Neuwahl des Bundestags, sagte Kühnert und rief dazu auf, die „demokratischen Spielregeln“ ernstzunehmen. Der Bundestag werde für vier Jahre gewählt, das sei nächstes Jahr im September wieder der Fall. Außerdem: „Die Ampel hat eine Mehrheit im Deutschen Bundestag“, erinnerte Kühnert. Die Koalition beschließe Gesetze und sei handlungsfähig. Große Teile des Koalitionsvertrags seien abgearbeitet.
Scholz selbst reagierte schmallippig auf die Forderungen aus der Union: „Das Wahlergebnis war für alle drei Regierungsparteien schlecht“, sagte der Kanzler am Nachmittag bei einer Pressekonferenz mit dem chilenischen Präsidenten. Es gehe auch nicht darum, „dass wir zur Tagesordnung übergehen“. Die Zustimmung zu seiner Regierung werde aber wieder größer werden.
Aus für Kanzlerträume? Diese Folgen drohen der Ampel-Koalition nach der Europawahl
Für Scholz wird das politische Beben in Frankreich zudem ein Grund sein, in Deutschland auf Kontinuität zu setzen. Während Russland in Europa Krieg führt, können nicht die beiden größten Volkswirtschaften des Kontinents in politische Unsicherheit stürzen, dürfte das Kalkül des Kanzlers lauten. Die Möglichkeit vorgezogener Neuwahlen sei zu „keiner Sekunde“ Thema gewesen, sagte Kanzler-Sprecher Steffen Hebestreit am Montag.
Wo ist die Sollbruchstelle der Ampel?
Das Trennungsrisiko ist hoch. Scheidungsgrund Nummer eins: Das Geld. Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm sagte dieser Redaktion, der Haushaltsstreit zwischen Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und seinen Ampel-Kollegen sei eine „Sollbruchstelle“ der Koalition. Anfang Juli soll der Entwurf stehen – bis dahin muss sich die Koalition verständigen, wie sie ein 40 Milliarden Euro großes Loch zu stopfen gedenkt. Die SPD will unter Verweis auf die Kosten des Ukraine-Kriegs die Schuldenbremse aussetzen, doch das lehnt Lindner strikt ab. Ohne Einigung, droht der Koalition das Aus.
Wie sieht der Weg zu Neuwahlen aus?
Die von der Union geforderte Vertrauensfrage im Bundestag ist im Grundgesetz angelegt. Damit kann sich der Kanzler vergewissern, ob die Mehrheit der Abgeordneten noch hinter ihm steht. Ist das nicht der Fall, kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen, dann gibt es Neuwahlen. 2005 stellte der damalige SPD-Kanzler Schröder die Vertrauensfrage explizit mit dem Ziel, Neuwahlen herbeizuführen. Mit dieser unechten Vertrauensfrage hatte Schröder Erfolg – aus der folgenden Bundestagswahl ging allerdings Angela Merkel (CDU) als Siegerin hervor.
Ein weiterer Weg zu Neuwahlen ist das konstruktive Misstrauensvotum. Dafür muss eine Mehrheit der Abgeordneten dem Bundeskanzler das Misstrauen aussprechen und ihn abwählen. In einem zweiten Schritt müssen sie mit einer Mehrheit einen Nachfolger wählen. 1982 lief die FDP von der SPD zur Union über und wählte Helmut Kohl (CDU) zum Nachfolger von Helmut Schmidt (SPD).
Was ist der Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich?
Käme es jetzt zu Neuwahlen in Deutschland, würden die aktuellen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag aller Voraussicht nach neu gemischt. Vermutlich gäbe es eine andere Koalition und somit wohl auch einen anderen Kanzler. In Frankreich ist die Lage anders: Macron löste die Nationalversammlung auf, mit der Neuwahl will Macron die Mehrheitsverhältnisse in der Parlamentskammer zu seinen Gunsten zu verschieben. Über ihn selbst wird aber nicht abgestimmt, Macron ist bis 2027 gewählt. Der französische Präsident wagt einen Befreiungsschlag. Scholz würde mit Neuwahlen sein Amt als Regierungschef aufs Spiel setzen.
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