Berlin.. Völkerrechtlich wäre es sauber, Ziele in Russland mit Raketen aus dem Westen zu beschießen. Experte Masala nennt die Taktik dahinter.

Herr Masala, wie blicken Sie aktuell auf das Frontgeschehen?

Carlo Masala: Die russische Offensive wurde von den Ukrainern gestoppt. Die Russen werden aber weiterhin versuchen, Charkiw in Schutt und Asche zu legen – und die Ukrainer werden sich bemühen, ihre Frontlinien zu stabilisieren.

In der Nacht zum Donnerstag wurde Charkiw massiv beschossen, von der Krim wurden ebenfalls Einschläge gemeldet. War das ein Versuch, die Kertsch-Brücke zu beschädigen?

Nein, die Ukrainer haben nicht die Mittel, um die Kertsch-Brücke zu zerstören. Mit den Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow und Scalp kriegen sie das nicht hin, nur Taurus könnte das. Und wenn eine Bombe auf die Brücke geworfen wird, wird sie für ein paar Stunden gesperrt und repariert. Die Ukraine versucht stattdessen, Stellungen auf der Krim kaputt zu machen. Die Halbinsel soll unter Druck gesetzt, russische Luftverteidigung und Munitionsdepots sollen zerstört werden.

Die USA bewegen sich bei der Frage, ob die Ukraine russische Ziele mit aus dem Ausland gelieferten Waffen angreifen darf. Auch andere Länder signalisieren Offenheit. Was heißt das für die künftige Strategie der Ukraine?

Es geht hauptsächlich um Ziele in Grenznähe, von denen aus Russland Charkiw beschießt. Dabei handelt es sich aber nicht um eine mögliche neue Strategie, sondern um eine schiere militärische Notwendigkeit. Wenn die Ukraine nicht über die Grenze gehen darf, wird sie nicht in der Lage sein, die Vernichtung von Charkiw zu stoppen. Nur darum geht es momentan.

Carlo Masala: Der Militärexperte weist auf eine Besonderheit in der deutschen Debatte um den Beschuss russischer Ziele mit westlichen Waffen hin.
Carlo Masala: Der Militärexperte weist auf eine Besonderheit in der deutschen Debatte um den Beschuss russischer Ziele mit westlichen Waffen hin. © picture alliance / Geisler-Fotopress | Thomas Bartilla/Geisler-Fotopres

In Deutschland ist die Bundesregierung noch deutlich zurückhaltender. Friedenskanzler hin oder her – wenn die USA das positiv bescheiden, könnte auch Scholz beidrehen?

Der Punkt ist: Deutschland hat nichts geliefert, was in der Lage ist, über die Grenze zu kommen und russische Stellungen zu zerstören. Die größte Reichweite deutscher Waffen ist der Mars-II-Raketenwerfer mit rund 80 Kilometern. Das Völkerrecht erlaubt solche Angriffe, das hat auch Scholz noch mal betont. Mit Blick auf die Innenpolitik ist das natürlich sehr verrätselt.

Eine Gratwanderung für Scholz.

Er muss die Balance wahren – er darf sich selbst nicht international isolieren, gleichzeitig muss er innenpolitisch seinen „Friedenskanzler“ aufrechterhalten. Deswegen kann er nicht wie Macron sagen: Alles, was zur Verfügung steht, muss gegen russische Ziele eingesetzt werden. Damit würde er einen Teil der Wahlkampfstrategie der SPD zunichtemachen, die darauf beruht, dass er besonnen und ein „Friedenskanzler“ ist.

Apropos Macron: Haben Sie bei dem Staatsbesuch eine neue deutsch-französische Einigung gespürt?

Ich habe das nicht weiter verfolgt. Allerdings gab es eine Ankündigung im Deutsch-Französischen Verteidigungsrat, wonach man gemeinsam sogenannte Deep Strike Capabilities entwickeln will …

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… also Raketen mit großer Reichweite, die in der Lage sind, Ziele in Russland zu treffen.

Dieser Beschluss ist notwendig, denn mit diesen Raketen ist man in der Lage, die Russische Föderation abzuschrecken und im Nato-Bündnisverteidigungsfall Ziele in Russland zu treffen, die den Russen helfen können, den Krieg gegen die Nato zu führen. Bisher ist das in der Öffentlichkeit nicht weiter wahrgenommen worden, aber darüber redet man schon relativ lange. Es ist ein wichtiger und vernünftiger Schritt, das zu formalisieren. 

Wie bewerten Sie die kursierenden Vorschläge von Boris Pistorius zur Wehrpflichtdebatte? Soll das ausreichen, um die Bundeswehr personell rasch besser aufzustellen?

Ich bin da skeptisch. Unter den Modellen, die im Verteidigungsministerium entwickelt wurden, hat diese Variante selbst bei Pistorius‘ Mitarbeitenden für die meisten Zweifel gesorgt, ob das die Personalprobleme der Bundeswehr lösen kann.

Was hätten Sie befürwortet?

Ich hätte das schwedische Modell für sinnvoll gehalten.

Das ist aber mit der SPD nicht zu machen.

Wenn der Bundeskanzler in Stockholm verkündet, dass die Personalprobleme der Bundeswehr überschaubar seien, war es klar, dass es keinen großen Wurf geben würde.

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Das deckt sich nicht mit Ihrer Analyse.

Das deckt sich mit keiner Analyse! Die Personalprobleme der Bundeswehr sind nicht überschaubar. Natürlich kann man argumentieren, dass die Differenz zwischen 180.000 und 203.000 nicht so groß ist ...

… diese Zahl an Soldaten wird in Deutschland bis 2031 angestrebt …

... aber das verkennt das Problem der Aufwuchsfähigkeit, also der Fähigkeit, die Streitkräfte im Krisenfall schnell mit bereits ausgebildeten Leuten zu vergrößern.