Berlin. Nie wieder 1933: Die Verfassung soll verhindern, dass autoritäre Regierungen die Demokratie abschaffen. Doch kann sie das überhaupt?
Wie gefährdet ist unsere Demokratie? Zum ersten Mal in der 75-jährigen Geschichte der Bundesrepublik begleitet diese Frage die Feiern zum Jahrestag des Grundgesetzes. „Die liberale Demokratie steht unter Beschuss“, stellte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck schon vor einigen Jahren fest. Seither ist die Lage nicht besser, sondern bedrohlicher geworden.
Die Erfahrung, dass eine Demokratie unter dem Druck demokratiefeindlicher Kräfte mit ihren eigenen Mitteln abgeschafft werden kann, war das Fanal, unter dem sich 1948 die Mitglieder des Parlamentarischen Rates an die Arbeit am neuen Grundgesetz machten. Es ging ihnen darum, die Grundlage für eine robuste, eine wehrhafte Demokratie zu schaffen. Damals war die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten gerade erst drei Jahre vergangen. So war allen noch blendend klar, dass die neue Verfassung der jungen Demokratie mehr Schutz gegen ihre Feinde bieten musste als die Weimarer Verfassung, an deren Ende die Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler gestanden hatte.
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Dieser Gedanke, der über die Jahrzehnte der sich so stabil entwickelnden Bundesrepublik ein wenig in Vergessenheit geraten war, hat in jüngster Zeit eine ganz neue Brisanz entfaltet, da die in Teilen rechtsextreme AfD immer mehr Zulauf erhalten hat. Sie könnte bei den ostdeutschen Landtagswahlen in diesem Jahr stärkste Fraktion werden. Und dann?
Demokratischer Kulturbruch 1933: Adolf Hitler kommt an die Macht
Als der Hitler-Vertraute Joseph Goebbels 1928 in den Reichstag gewählt wurde, ließ er an den Zielen seiner Partei im Parlament gar keinen Zweifel. „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns aus dem Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen“, schrieb er in der Nazizeitung „Völkischer Beobachter“. „Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen.
Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. (…) Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. (…) Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.“
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Keine fünf Jahre später war das Ziel schon erreicht. Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte den Vorsitzenden der größten Fraktion, Adolf Hitler, am 30. Januar 1933 unter chaotischen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen zum Kanzler. Dessen NSDAP war bei den letzten freien Wahlen 1932 mit 33 Prozent stärkste Partei geworden. In der nach dem Reichstagsbrand Ende Februar ausgebrochenen, von den Nazis geschürten politischen Krise verabschiedete das Parlament das sogenannte Ermächtigungsgesetz, mit dem die gesetzgebende Gewalt an Hitlers Regierung übertragen wurde. Die Abgeordneten hoben damit die für eine demokratische Ordnung entscheidende Gewaltenteilung selbst auf.
Eingriffen in das Grundgesetz muss auch Oppositon zustimmen
Diesen demokratischen Kulturbruch vor Augen, setzte der Parlamentarische Rat die Zwei-Drittel-Mehrheit für jegliche Änderungen am Grundgesetz als entscheidende Sicherungsschwelle gegen Versuche, die Verfassung aus den Angeln zu heben. Mit der einfachen Mehrheit der Mandate kann eine Partei regieren. Doch für Eingriffe in das Grundgesetz ist in der Regel die Zusammenarbeit zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien erforderlich.
Was im politischen Alltag manchmal als hinderlich erscheint – zum Beispiel lässt sich die aktuell von manchen angestrebte Lockerung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse nicht umsetzen, weil dafür eben eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich wäre –, ist in Wahrheit also ein wesentliches Element, um die parlamentarische Demokratie in Deutschland stabil zu halten. „So bringt das Grundgesetz sich selbst in Sicherheit vor den Mühlsteinen der politischen Auseinandersetzung um Mehrheit oder Minderheit“, schreibt der Jurist Maximilian Steinbeis in seinem Verfassungsblog.
Ewigkeitsklausel definiert, was niemals aufgehoben werden kann
Doch der Schutz gilt vor allem für den Extremfall eines Fundamentalangriffs auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung, den Kern des bundesdeutschen Staates. Dafür hält das Grundgesetz die Ewigkeitsklausel in Artikel 79 parat, die definiert, welche seiner Bestimmungen niemals aufgehoben werden können. Sie sind „ewig“, das heißt, sie sind wirksam, solange das Grundgesetz gilt. An erster Stelle steht hier der Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
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Damit sind beispielsweise die in rechten Kreisen angestellten Überlegungen, bestimmte in Deutschland lebende Gruppierungen zu deportieren, schlicht verfassungswidrig. Auf ewig verankert ist auch die föderale Ordnung: Aus der Bundesrepublik darf kein Zentralstaat gemacht werden. Die entscheidende Institution, die die Einhaltung dieser Bestimmungen überwacht, ist das Bundesverfassungsgericht. Es ist ebenfalls im Grundgesetz verankert und könnte nicht einfach abgeschafft werden.
Ein Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre in Ungarn und Polen, wo demokratisch gewählte, aber autoritär handelnde Regierungen tief in die demokratischen Strukturen eingegriffen haben, zeigt, dass das Grundgesetz solchen Bestrebungen relativ gut standhalten könnte. Allerdings ließen sich beispielsweise die Wahlgesetze, das Parteiengesetz, die Geschäftsordnung des Bundestages jeweils mit einfacher Mehrheit ändern.
„Damit hätte die Parlamentsmehrheit Zugriff auf das Wahlsystem, auf die Parteienfinanzierung, auf die parlamentarischen Rechte der Opposition und könnte diese in weitem Umfang als Hebel einsetzen, die politische Konkurrenz zu schwächen, zu zersplittern und zu neutralisieren“, warnt Steinbeis. Gleiches gilt für die Wahl der Verfassungsrichter. Eine einfache Mehrheit im Bundestag würde reichen, um die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit bei der Richterwahl aus dem Gesetz zu streichen.
Hier zeigt sich die größte Schwäche demokratischer Systeme: Sie sind immer davon abhängig, dass sich alle Beteiligten an Spielregeln halten, die gerade nicht einklagbar sind. Wenn irgendwelche Putschisten den Bundestag stürmen, hilft die Geschäftsordnung wenig.
75 Jahre Grundgesetz: Menschen müssen Demokratie als wertvoll begreifen
Entscheidend für eine lebendige demokratische Kultur ist, dass die Menschen sie als wertvoll und verteidigenswert begreifen. Dafür ist in den vergangenen Jahren womöglich zu wenig getan worden. Welch ein Schatz das Grundgesetz ist – um das zu zeigen, ist deswegen auch mehr nötig als ein Demokratiefest zum 75. Geburtstag.
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Kritiker wenden zudem ein, dass der Fokus des Festes zu sehr auf der westdeutschen Perspektive liege. Nicht zu vergessen ist auch, dass der Blick der westdeutschen Politik auf das gelungene Werk der Bundesrepublik 1990 verhindert hat, dass die Schlussbestimmung des Grundgesetzes in Artikel 146 umgesetzt wurde: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Möglicherweise wäre die Identifizierung auch der Ostdeutschen mit dem Staat Bundesrepublik größer und die Zahl der AfD-Wähler kleiner, wenn es diese gesamtdeutsche Abstimmung gegeben hätte.
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