Berlin. Der Westen ist zunehmend offen für den Waffeneinsatz gegen russische Stellungen. Auch in eigenen Reihen gerät der Kanzler unter Druck.
Wäre es eine „rote Linie“, die überschritten wird? Die Führung in Kiew hofft, Moskau warnt und die Nato diskutiert. Bisher darf die Ukraine mit westlichen Waffen keine militärischen Ziele in Russland angreifen – obwohl von dort die Raketen abgeschossen werden, die regelmäßig auf ukrainische Städte hageln. Derzeit gerät die Ukraine allerdings militärisch so unter Druck, dass unter den westlichen Unterstützern ein Kurswechsel diskutiert wird. Mit Unterstützung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)?
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Maßgeblich ist für Scholz der Blick über den Atlantik. Dort gibt es inzwischen Bewegung in der Frage: Die US-Regierung hat der Ukraine übereinstimmenden Medienberichten zufolge im Stillen die Erlaubnis erteilt, in Amerika produzierte Waffen in begrenztem Umfang gegen Ziele auf russischem Territorium einzusetzen. Dies gelte ausschließlich für Gegenschläge zur Verteidigung der ostukrainischen Großstadt Charkiw, berichteten unter anderem das Nachrichtenmagazin „Politico“ und der Sender CNN am Donnerstag. Hinter den Kulissen hatte Außenminister Antony Blinken, bei Präsident Joe Biden für den Kurswechsel geworben. Man habe sich den verändernden Bedingungen des Krieges stets angepasst und werde das auch weiterhin tun, sagte Blinken.
Ukraine: Frankreich will Einsatz westlicher Waffen erlauben
Die Haltung Frankreichs ist unmissverständlich: An der Seite von Kanzler Scholz verwies Präsident Emmanuel Macron während seines Deutschlandbesuchs zu Wochenbeginn auf die existenzielle Lage der Ukraine, die von russischen Stützpunkten angegriffen werde. „Wir wünschen uns, die Möglichkeit zu haben, auf diese Raketenabschussanlagen feuern zu können“, sagte Macron. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg befürwortet dies als „Teil der Selbstverteidigung“.
Scholz äußerte sich nicht eindeutig, als Macron voranpreschte. „Die Ukraine hat völkerrechtlich alle Möglichkeiten für das, was sie tut“, sagte der Sozialdemokrat. „Sie wird angegriffen und darf sich verteidigen.“ Pierre Thielbörger, Völkerrechtler von der Ruhr-Universität Bochum, pflichtet dieser Einschätzung bei: „Der sich verteidigende Staat darf diejenigen militärischen Schritte unternehmen, die nötig sind, den Angriff zu beenden“, sagte der Experte dieser Redaktion. Dazu gehöre auch, Infrastruktur auf russischem Boden anzugreifen, wenn diese für kriegerische Zwecke genutzt werde. Verantwortlich für den Einsatz der Waffen sei zunächst die Ukraine und nicht das Land, das sie liefert. „Kriegspartei im rechtlichen Sinn ist nur, wer selbst unmittelbar an den Kampfhandlungen beteiligt ist.“
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Vor einem Jahr hatte Scholz unmissverständlich betont: „Die Waffen, die wir liefern, sind für den Einsatz zur Verteidigung auf ukrainischem Boden.“ Bei einer Veranstaltung der „Thüringer Allgemeinen“ sagte Scholz am Donnerstagabend, die Bundesregierung habe zu dem Einsatz der gelieferten Waffen Vereinbarungen mit der Ukraine getroffen, „die wir nicht ändern müssen“. Der Inhalt dieser Vereinbarung ist jedoch geheim und wurde von Regierungssprecher Steffen Hebestreit in den vergangenen Tagen auf Nachfragen nicht erläutert. „Politisch spielen die Einsatzzwecke, die die liefernden Staaten vorgeben, aber eine große Rolle“, analysiert Völkerrechtler Thielbörger. Sollte sich die Ukraine darüber hinwegsetzen, drohe ein Lieferstopp westlicher Waffen.
Stimmen aus SPD und FDP unterstützen Stoltenberg-Forderung
In der Ampel-Koalition gibt es allerdings Forderungen, angesichts der russischen Angriffe auf die ukrainische Großstadt Charkiw der Ukraine ausdrücklich grünes Licht dafür zu geben, mit westlichen Waffen militärische Ziele in Russland zu beschießen. „Natürlich darf die Ukraine Abschussstellungen von russischem Raketen, die auf russischem Territorium stehen und die Ukraine bedrohen, angreifen und ausschalten“, sagte die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann dieser Redaktion. „Die Ukraine sollte die russischen Raketen nicht nur auf eigenem Gebiet abwehren dürfen, sondern bereits den Abschuss verhindern können – auch mit den von uns gelieferten Waffen.“
Strack-Zimmermann fordert seit Kriegsbeginn eine stärkere militärische Unterstützung für die Ukraine. Bemerkenswert ist, dass ihre Position auch in der SPD-Fraktion Unterstützung findet. Nato-Generalsekretär Stoltenberg habe den Weg für die Debatte gewiesen, sagte der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid dieser Redaktion. „Es macht Sinn, diese Beschränkung für Ziele auf russischem Gebiet aufzuheben.“ Das müssten die Nato-Verbündeten aber gemeinsam beschließen.
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Ein entscheidender Punkt ist aus Sicht des Kanzleramts jedoch, welche Waffen die Ukraine aus Deutschland erhalten hat. Den Marschflugkörper Taurus mit einer Reichweite von etwa 500 Kilometern will Scholz der Ukraine bislang nicht liefern. Es sei daher wichtig, „deutlich zu machen, dass wir uns hierbei eher im Theoretischen bewegen“, betont Kanzler-Sprecher Hebestreit. Deutschland hat auch den Mehrfachraketenwerfer Mars II mit einer Reichweite von gut 80 Kilometern geliefert. Im Fall der grenznahen Stadt Charkiw würde das zumindest reichen, um russisches Gebiet ins Visier zu nehmen. Das Gerät würde aber nicht so nah an der Front positioniert.
Putin droht mit „ernsten Folgen“
In Moskau werden die Debatten genau beobachtet. Ein möglicher Einsatz westlicher Waffen gegen russische Stellungen könne „ernste Folgen“ haben, sagte der russische Präsident Wladimir Putin. Die Nato, die EU und besonders kleine Länder sollten sich „im Klaren sein, womit sie spielen“.
Eine Warnung, die hierzulande Teile des politischen Spektrums zur Vorsicht mahnen lässt: „Jede westliche Rakete, die in Russland einschlägt, vergrößert das Risiko einer unkalkulierbaren Eskalation dieses Krieges“, sagte die Linken-Vorsitzende Janine Wissler dieser Redaktion. Sie bezeichnet die Forderung als „absolut verantwortungslos und hochgefährlich“ und befürchtet eine „Rutschbahn in einen Dritten Weltkrieg“.
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