Charkiw. Russland nimmt Dörfer in der Region Charkiw ein, nicht aber die Stadt selbst. Die Menschen dort leiden – und trotzen Putins Angriffen.

Natürlich kann sich Iryna Kotenko noch genau an die Nacht erinnern, in der sie nur knapp dem Tod entrann. An das durchdringende Geräusch der heranfliegenden Drohne. Daran, wie die Maschine beschleunigte, an den lauten Knall. „Der Putz und all das Zeug fiel auf uns, die Lichter gingen aus.“

Die Kotenkos haben Glück, sie überleben unverletzt. Als die Rettungskräfte eintreffen, schlägt eine zweite Drohne ein, die gezielt die Helfer treffen soll. Drei Männer sterben sofort, einer erliegt Wochen später seinen Verletzungen. Alltag in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Trotzdem will Iryna Kotenko nicht weg. Noch nicht.

Alltag im Krieg: Surreal normal

Nowobawarskij ist ein Stadtbezirk im Südwesten von Charkiw. Hier lebt die Familie Kotenko in einem der vielen grauen Wohnhäuser. Drei Stockwerke, viele Fenster sind seit der Nacht auf den 4. April provisorisch mit Sperrholzplatten verrammelt. Iryna Kotenko führt durch das dunkle Treppenhaus nach oben in ihre Wohnung.

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Ihr Mann und sie sind jetzt in das Zimmer der Tochter umgezogen, das Schlafzimmer ist nicht mehr bewohnbar. Große Risse durchziehen die Decke. Draußen gellt wieder der Luftalarm, es ist das dritte Mal an diesem Tag. Kotenko reagiert nicht darauf. „Wir sind daran gewöhnt. Wir versuchen ein normales Leben zu führen.“

Tatsächlich wirkt das Alltagsleben in Charkiw Anfang Mai fast surreal normal. Die Straßen sind voller Autos, Restaurants und Geschäfte sind geöffnet. Auf den Spielplätzen toben Kinder. Ganz anders als noch vor zwei Jahren.

Dauernd Luftalarm

Als die russischen Streitkräfte im Februar 2022 die Ukraine überfallen, nehmen sie sofort Charkiw im äußersten Nordosten des Landes ins Visier. Die Stadt liegt nur etwa vierzig Kilometer entfernt von der russischen Grenze. Russische Soldaten dringen in Charkiw ein. Es kommt zu Straßenkämpfen. Zwei Drittel der rund 1,4 Millionen Einwohner fliehen. „Wir sind geblieben, aber es war sehr traurig, als die ganze Stadt innerhalb von nur einer Woche leer wurde. Es war beängstigend“, erinnert sich Kotenko an die Tage nach dem Beginn der Invasion.

Trotz der Zerstörungen durch die ständigen Luftangriffe wollen die Menschen in ihrer Stadt bleiben.  Foto: André Hirtz / FUNKE Foto Services
Trotz der Zerstörungen durch die ständigen Luftangriffe wollen die Menschen in ihrer Stadt bleiben. Foto: André Hirtz / FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services

Als die Russen nach wenigen Tagen aus Charkiw vertrieben werden, fangen sie an, die Stadt zu bombardieren. Fast eintausend Gebäude werden beschädigt, Hunderte Menschen sterben. Erst im Herbst 2022 endet der Horror, als die ukrainische Gegenoffensive die russischen Streitkräfte so weit von der Stadt wegdrängt, dass die feindliche Artillerie sie nicht mehr erreicht.

Die Menschen harren aus, sie wollen bleiben

Im vergangenen Jahr schien sich die Situation in Charkiw zu normalisieren. Viele Einwohner kehrten zurück, obwohl auch weiterhin Menschen bei Luftangriffen starben. Seit Anfang dieses Jahres haben die Russen den Beschuss wieder deutlich intensiviert, seit März setzen sie sogar Fliegerbomben gegen die Stadt ein. 49 Raketen. 29 Fliegerbomben. 68 Drohnen. So viele Geschosse sind nach Angaben der ukrainischen Behörden seit dem Jahreswechsel bereits auf Charkiw abgefeuert worden. Bis zum 9. Mai sind in der Stadt in diesem Jahr 296 Zivilisten bei Luftangriffen gestorben, darunter zwölf Kinder.

Nicht weit entfernt von Iryna Kotenkos Wohnblock liegt eine psychiatrische Klinik. Etwa eintausend Patienten werden hier behandelt. An diesem warmen Frühlingstag herrscht noch immer Aufregung. Zwei Nächte zuvor sind zwei S300-Raketen auf dem Klinikgelände eingeschlagen. Wie durch ein Wunder sind sie zwischen den Gebäuden explodiert, gestorben ist niemand. „Es war schlimm, wir haben uns mit den Patienten im Keller versteckt, sie waren sehr verängstigt“, erzählt eine Pflegerin, die sich mit ihren Kolleginnen die Schäden anschaut.

In Reichweite der Artillerie

Bei den Einschlagskratern räumen Freiwillige die Trümmer beiseite, flicken Dächer, setzen in den Fenstern Sperrholzplatten und Plexiglas ein. „Aktuell ist der Beschuss sehr stark, noch stärker als im Jahr 2022. Die Beschussdichte ist sehr hoch“, sagt Olga Skorova, Leiterin einer Organisation namens Dobrobat. Sie steht vor der Zentralküche des Krankenhauses, vor der ein großes Loch klafft. Die Wand ist schwarz von der Explosion. Drinnen stehen Frauen vor großen Kochtöpfen, aus denen Dampf aufsteigt. Die Patienten müssen versorgt werden. Das Leben muss weitergehen. „Wir stehen alle Seite an Seite“, sagt Skorova. Aufgeben ist für die Menschen in Charkiw keine Option.

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Noch schlimmer als die Großstadt trifft es die Dörfer und Kleinstädte nördlich und nordöstlich von Charkiw. Sie liegen in Reichweite der russischen Artillerie. „Einige Siedlungen werden von den Russen dem Erdboden gleichgemacht“, berichtet Oleh Syniehubov, Leiter der für die Region Charkiw zuständigen Militärverwaltung.

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Fast 3000 Wohnhäuser, zwölf Kindergärten, 15 Schulen und 28 Krankenhäusern seien in den grenznahen Dörfern und Kleinstädten beschädigt oder zerstört worden. Und das war vor dem Beginn der begrenzten russischen Offensive, die am Donnerstag begonnen hat, vor allem die Kleinstadt Wowschansk in Mitleidenschaft zieht und bei der die Russen bislang bis zu fünf Dörfer unter ihre Kontrolle gebracht haben sollen.

Ukraine schließen kein Szenario aus

In den grenznahen Siedlungen haben die ukrainischen Behörden in diesem Jahr 307 tote Zivilisten gezählt, fast 700 Menschen wurden verletzt. Auch das sind Zahlen vor den jüngsten russischen Vorstößen. Syniehubov hat deswegen die Zwangsevakuierung von Familien aus 47 frontnahen Dörfern angeordnet. „Das sind die Siedlungen, die täglich von den Besatzern beschossen werden.“ Er sagt auch, dass die Menschen zunächst in der Region bleiben wollten.

Die Luftangriffe sind zermürbend. Sie zersetzen die Infrastruktur. Die Reparaturen schon jetzt auch den Zweck, Charkiw auf den nächsten Winter vorzubereiten. Foto: André Hirtz / FUNKE Foto Services
Die Luftangriffe sind zermürbend. Sie zersetzen die Infrastruktur. Die Reparaturen schon jetzt auch den Zweck, Charkiw auf den nächsten Winter vorzubereiten. Foto: André Hirtz / FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services

Mit den aktuellen russischen Vorstößen in der Region haben die Ukrainer in diesem Krieg seit langem gerechnet. „Wir verstehen klar, dass der Feind seine Pläne nicht aufgegeben hat. Wir schließen keine Szenarien aus, daher setzen wir unsere geplanten Verteidigungsvorbereitungen jeden Tag fort“, so Syniehubov. Bereits im vergangenen Jahr haben sie in Charkiw den Schulbetrieb in die U-Bahn-Schächte verlegt. Jetzt bauen sie im Umfeld der Stadt Bunker, damit Schulen wieder öffnen können.

Zu wenig Soldaten, um die Stadt einzunehmen

Die größte Herausforderung, sagt Syniehubov, sei jetzt, die Region auf den Winter vorzubereiten. „Seit März hat der Feind die regionale Energieinfrastruktur erheblich beschädigt. Wir haben einen großen Bedarf an Generatoren und Aufladestationen.“ Zudem versuchten die Behörden die Wärme- und Energieversorgung zu dezentralisieren.

Ob die Truppen von Kremlchef Wladimir Putin tatsächlich planen, die Stadt Charkiw erneut direkt zu attackieren, ist offen. Die aktuellen Angriffe haben den Charakter von Aufklärungsoperationen. Moskau hat zwar in der Nähe der Grenze bei Belgorod etwa 30.000 Soldaten zusammengezogen, im Hinterland sollen zusätzlich etwa 20.000 Soldaten bereitstehen. Um Charkiw einzuschließen oder gar zu erobern, reicht das aber nicht aus. Zum Vergleich: Für die Eroberung der Kleinstadt Awdijiwka warf Russland 45.000 Mann in die Monate dauernde Schlacht.

Trotz der ständigen Luftangriffe will Iryna Kotenko Charkiw nicht verlassen. „Niemand geht mehr irgendwo hin“, sagt die 53-Jährige. Nur, wenn die Stadt russische besetzt würde, würde sie Charkiw verlassen. „Wir wollen sie hier nicht, wir brauchen sie hier nicht. Wir wollen ukrainisch bleiben.“

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